THE CHILD – DIE STADT WIRD ZUM ALPTRAUM
Italien 1972
Regie: Aldo Lado
DarstellerInnen: George Lazenby, Anita Strindberg, Peter Chatel, Adolfo Celi, Nicoletta Elmi, José Quaglio, Alessandro Haber u.a.
Inhalt:
Ein rothaariges Mädchen wird in Frankreich ermordet. Sein Kindermädchen kommt gerade noch rechtzeitig, um einer schwarz gekleideten Gestalt mit Trauerflor vor dem Gesicht am Tatort zu begegnen. Das Verbrechen wird nie aufgeklärt, die Akte geschlossen.
Ein paar Jahre später.
Franco freut sich über den Besuch seiner Tochter Roberta (ebenfalls rothaarig), die mit ihrer Mutter Elizabeth in London lebt. Er hat sich in Venedig als Künstler niedergelassen und in gewissen Kreisen auch etabliert.
Leider währt die Wiedersehensfreude nur kurz – Roberta verschwindet (währenddessen er sich mit einer Geliebten vergnügt) spurlos. Auch in ihrer Nähe wurde eine ominöse, schwarz gewandete Person gesehen. Am nächsten Morgen treibt Robertas Leiche im Canal Grande. Elizabeth und George kommen sich durch die gemeinsame Trauer wieder näher, aber George kann nicht loslassen und sucht unablässig nach dem Mörder seiner Tochter...
"The Child – Die Stadt wird zum Alptraum" ist nach seinem fulminanten Erstling Malastrana der zweite Film des gebürtigen Venezianers Aldo Lado. In Interviews berichtet der Regisseur gerne, wie sehr er sich gefreut hat, einen Film in den Gefilden seiner Kindheit drehen zu können.
Eindeutig profitiert "The Child" von seinen Insider-Kenntnissen über sehenswerte venezianische Gemäuer. Lado hat für Schlüsselszenen bewusst Plätze und Gassen, die etwas weniger touristisch okkupiert sind, gewählt.
Gedreht wurde der Giallo im Spätherbst des Jahres 1972, also zu einer Jahreszeit, in der man die berühmte Lagunenstadt des Öfteren in Nebel getaucht sieht.
"Chi l'ha vista morire?"
aus einem Kinderlied ("Wer hat sie sterben gesehen?")
In erster Linie lebt der Film von der unheimlichen nebelverhangenen Atmosphäre Venedigs, gekonnt intensiviert von einem Ennio Morricone-Score. Selten hören sich Kindergesänge so unheimlich und traurig, doch gleichzeitig irritierenderweise einnehmend und einlullend an wie in dieser Komposition des Maestros.
Die äußert begabte Kinderdarstellerin Nicoletta Elmi (Roberta), die in Filmen wie beispielsweise Baron Blood oder Il medaglione insanguinato Rollen finsterer Natur innehatte, spielt in "The Child" zur Abwechslung ein halbwegs fröhliches, kindliches Mädchen.
Dennoch wirkt sie in vielen Szenen etwas in sich gekehrt und nachdenklich. Fast, als ob sie ihr grausames Schicksal bereits ahnt. Die Bedrohung rückt auch für das Auge des Zuschauers und der Zuschauerin immer näher, wird aber (vorerst noch) im letzten Moment durch Auftauchen anderer Personen abgewendet.
Das Drehbuchkonstrukt ist vergleichbar mit dem des später entstandenen Venedig-Giallos Blutiger Schatten, sprich: es gibt so einige hübsche fette rote Heringe, die zum Miträtseln einladen.
Beinahe alle ProtagonistInnen verhalten sich auf die ein oder andere Art suspekt, wenn sie auf Roberta treffen. Alle sind von dem Mädchen und seinem herzlichen naiv-verspielten Gemüt verzaubert, die Blicke und Hände der Erwachsenen ruhen etwas länger auf ihr als nötig und sie bekommt überall viel Aufmerksamkeit.
Beinahe alle ProtagonistInnen verhalten sich auf die ein oder andere Art suspekt, wenn sie auf Roberta treffen. Alle sind von dem Mädchen und seinem herzlichen naiv-verspielten Gemüt verzaubert, die Blicke und Hände der Erwachsenen ruhen etwas länger auf ihr als nötig und sie bekommt überall viel Aufmerksamkeit.
Der Kreis der Verdächtigen setzt sich zusammen aus im Giallo-Genre populären Stereotypen – da wären der herrschsüchtige, undurchsichtige Kunsthändler und Kaufmann Serafian (großartig: Adolfo Celi, Yankee), der angeblich pädophile Rechtsanwalt namens Bonaiuti (José Quaglio, ebenfalls dubios in Malastrana), der Reporter (und Freund von George), der fast schon obligatorische Priester und ein paar andere Nebencharaktere, die prinzipiell auch nicht als Täter ausgeschlossen werden können.
Mittendrin taumelt der von seinen Schuldgefühlen getriebene Vater auf der Suche nach dem Mörder (der drahtige George Lazenby aka James Bond in "Im Geheimdienst Ihrer Majestät") von einem fragwürdigen Zeitgenossen zum nächsten. Apropos Gefühle: die ganz großen Gefühle wie Trauer, Verzweiflung oder Liebe werden eher verhalten dargestellt und es fällt auf, dass vermeintlich hoch emotionale Szenen entweder ganz ausgespart oder frühzeitig durch einen Schnitt unterbrochen werden. Dies verhindert zwar ein unnötiges Abdriften in die depressiven Untiefen eines Dramas. Dafür büßt die Geschichte dezent an Authentizität ein.
Auch die Mutter des verstorbenen Kindes (Anita Strindberg, Una lucertola con la pelle di donna) macht angesichts der großen Tragödie einen erstaunlich gefassten und vernünftigen Eindruck.
Das Hauptaugenmerk richtete Aldo Lado auf die Krimi-Elemente und die Frage nach dem Täter und seinem Motiv für das abscheuliche Verbrechen.
Die Kamera filmt immer wieder aus der Ego-Perspektive des Mörders (der Mörderin?), aber auch aus der Sicht von Roberta. Durch das für uns ZuschauerInnen mithilfe dieses Stilmittels eingeschränkte Blickfeld wird die Spannung und das beklemmende Gefühl von Bedrohung zusätzlich intensiviert.
"The Child" ist ein visuelles und atmosphärisches Meisterwerk mit einem Venedig, das von Schleiern des Nebels verdunkelt und von Spuren des Verfalls gezeichnet ist.
Die alptraumhafte Atmosphäre der Handlung ist, ähnlich wie im zeitlich später entstandenen Wenn die Gondeln Trauer tragen, durch eine düstere Symbiose mit dem morbiden Drehort verbunden.
Lado erläutert im Bonusmaterial, welche Ängste und Traumata er aus seiner Kindheit in sein Werk eingebaut hat. Dieses Bestreben war eindeutig von Erfolg gekrönt. Sogar die hektischen Flügelschläge der Tauben auf dem Markusplatz werden gekonnt als Stilmittel eingesetzt und erzeugen eine verstörende Beklemmung.
Aldo Lado transportiert durch seine Aufnahmen, Kameraführung und Schnitt ein durchgängig unbehagliches Gefühl, das nicht zuletzt durch Morricones Musik vertieft wird.
Aldo Lado transportiert durch seine Aufnahmen, Kameraführung und Schnitt ein durchgängig unbehagliches Gefühl, das nicht zuletzt durch Morricones Musik vertieft wird.
Ich habe diesen Film schon unzählige Male gesehen. Und ich lasse mich immer wieder gerne von dem eigenartigen Zauber der geschichtsträchtigen Lagunenstadt und ihrer geheimnisvollen BewohnerInnen einfangen – cineastisch und in der Realität.
Wie sieht es mit euch aus?
Einen Bildvergleich der Locations aus dem Jahr 1972 und 2014 gibt es hier.
Wie sieht es mit euch aus?
Einen Bildvergleich der Locations aus dem Jahr 1972 und 2014 gibt es hier.
Foto: Koch Media Giallo Collection Teil 2, Eyecatcher, Shameless und Anchor Bay Giallo Collection
Eine VÖ ist nicht genug |