Sonntag, 28. Mai 2017

BUCHTIPP: SELLERS, ROBERT: WHAT FRESH LUNACY IS THIS? - The authorised biography of OLIVER REED















Oliver Reed und ich

Mein allererster Film mit Oliver Reed war "Der Fluch von Siniestro".
Der zu diesem Zeitpunkt so um die 7 oder 8 Jahre alte Mini-Gore-Bauer, der ich damals war, fand Reed in dieser Rolle etwas unheimlich, aber den Film zu angestaubt und wollte dann doch lieber zum x-ten Mal American Werewolf über den Bildschirm flimmern lassen.
Als junge Erwachsene habe ich beim Ausmisten meiner alten VHS Kassetten bemerkt, was für ein Juwel dieser Hammer-Streifen doch ist und wie charismatisch Oliver Reed in der Rolle des Wolfsmenschen, die ihm seinen ersten kleinen Durchbruch verschaffte, war.
Wenige Wochen später bewunderte ich ihn in Landhaus der toten Seelen und bald darauf in Die perfekte Erpressung, einem meiner Lieblingsfilme.
Reeds mitreißende Performance in diesem italienischen Thriller war es schließlich, die mich innerhalb von 106 Minuten von einer Fabio Testi Verehrerin zu einem Oliver Reed Fan mutieren ließ.
Neben charismatischen Bad Boys verblassen selbstgefällige Schönlinge wie Testi und Co. eben sehr schnell.
Und als ich vor Kurzem zum wiederholen Male Die Brut gesehen habe, in dem Reed ebenfalls eine gigantisch starke Leinwand Präsenz besitzt, verspürte ich das Bedürfnis, mich etwas genauer mit der Person Oliver Reed zu beschäftigen.
Auf Youtube finden sich zahlreiche Interviews und Fernseh-Auftritte des Briten in offensichtlich heftig betrunkenem Zustand. Er wird der Lächerlichkeit preisgegeben oder macht sich selbst lächerlich. Meist trifft beides davon zu. Mich beschlich jedoch der Verdacht, dass das nicht alles gewesen sein kann und es mehr entdeckenswerte Facetten dieses ausdrucksstarken Mimen geben muss.
Dann stieß ich auf diesen Fernseh-Beitrag aus dem Jahr 1993 im Rahmen von "Without Walls - The Orbituary Show". Das etwas morbide Konzept dieser Reihe bestand offenbar darin, Leute aus dem öffentlichen Leben so zu interviewen, als wären sie bereits verstorben und säßen im Himmel.
Oliver Reed zeigte sich in dieser Show von einer emotionalen und tiefgründigen Seite. Das war das, wonach ich gesucht hatte. Ich fühlte mich darin bestätigt, dass seine Persönlichkeit mehr Substanz aufwies als manche seiner geistig umnachteten Interviews annehmen lassen.
Unheimlicherweise sagte er 1993 sogar seinen tatsächlichen Tod voraus:
"I died in a bar of a heart attack."
Eine andere Aussage, die mich sehr bewegt, trifft er sichtbar berührt in Zusammenhang mit seiner fiktiven Totenwache:
"And the only thing that happened that I regret about my funeral was the fact that I couldn't go to my own wake. Because it was a wonderful party. And every time I kept on tapping somebody on the shoulder I'm going to cry now... They didn't know I was there."
Gänsehaut. Faszination. Buch-Kauf.

Über das Buch

Das Interessante an dieser Biographie ist, dass sie nicht nur einen Zugang zu dem Schauspieler Oliver Reed, sondern zu der Persönlichkeit hinter seinen Rollen eröffnet. Damit meine ich nicht nur die Rollen in seinen Filmen.
Ollie, wie er von Freunden und Fans, aber auch in der englischen Presse liebevoll genannt wurde, war ein Mann, der rund um seine Schüchternheit, Verletzlichkeit und Minderwertigkeitskomplexe eine riesige Mauer errichtet hatte und ein exzessives und wildes Leben führte. So die erstaunlich übereinstimmenden Wahrnehmungen und Beschreibungen aus seinem nahen Umfeld.
Für sein Buch lässt Filmjournalist Sellers Familienmitglieder, (ehemalige) Ehefrauen, Geliebte, enge Vertraute, Freunde, Army-Kameraden und Barbekanntschaften zu Wort kommen. Natürlich auch Menschen aus dem Filmbusiness und Journalisten. Als Quellen dienten dabei eigene Interviews des Autors aus dem genannten Personenkreis sowie Biographien (u.a. von Christopher Lee) und Aussagen von KollegInnen, die auf DVD Bonusmaterial nachzuhören sind.

Nicht zuletzt finden Passagen aus Ollies vergriffener Autobiographie "Reed all about me" Eingang in das Buch. Neben wichtigen Filmrollen werden bedeutsame Interviews und Show-Auftritte skizziert und deren Umstände näher beleuchtet.
Alle Beschreibungen und Charakterisierungen ergeben ein sehr differenziertes Gesamtbild von einem Menschen, der voller Extreme und Gegensätze zu stecken schien.

Von Leuten aus seinem engsten Kreis und SchauspielkollegInnen wird er als über die Maßen loyal, verlässlich, großzügig, höflich und humorvoll beschrieben. Auf der anderen Seite wird er in betrunkenem Zustand als penetrant, aggressiv, gewalttätig, peinlich und unberechenbar charakterisiert.
Mehrmals wird eine Parallele zu "Dr. Jekyll und Mister Hyde" gezogen.

Seine schauspielerische Professionalität wird von beinahe allen, mit denen er zusammengearbeitet hat, betont. Auch in seiner exzessivsten Lebensphase kam er pünktlich ans Set, konnte ausnahmslos alle seine Textzeilen auswendig und lieferte vor der Kamera eine professionelle Leistung ab.
Dies wird in "What fresh lunacy is this?" von Regisseuren wie Ken Russell, Nicolas Roeg, Michael Winner, John Hough, Stuart Gordon oder Terry Gilliam geschildert und auch vom Produzenten seines letzten Films, "Gladiator", bestätigt.
Er besaß enormes künstlerisches Potential, doch seine Karriere kam durch seinen Ruf, den er sich selbst erschaffen hatte, ins Stocken. Die Angebote versiegten, sein Bruder Simon kündigte schließlich desillusioniert seinen Job als Ollies Manager und auch andere Familienmitglieder wendeten sich von ihm ab.

Nicht nur wegen des sehr flüssigen Schreibstils des Autors, der sich mit eigenen Bewertungen stark zurückhält, sondern auch wegen den unzähligen Begebenheiten aus Reeds Leben, die eine große Bandbreite zwischen lustigen Anekdoten bis hin zu tragischen Ereignissen umfassen, ist "What fresh lunacy is this?" die vielschichtigste und interessanteste Biographie, die ich jemals gelesen habe.
Das Buch gibt so tiefe intime Einblicke in das Leben Reeds, dass er einem beim Lesen vertraut wird und trotz seines oftmals schlechten Benehmens und seiner wenig ruhm- aber sehr Rum-vollen Eskapaden unweigerlich ans Herz wächst.
Umso mehr hat mich das Ende emotional mitgenommen. Je näher ich den letzten Buchseiten bzw. Stunden seines Lebens kam umso trauriger wurde ich.
Seine verbalen Ausfälle und seine öffentlichen Auftritte in desolatem Geisteszustand sehe ich nun mit anderen Augen.
Sie betrüben mich und ich würde mir wünschen, dass sich der andere, der begabte, tiefgründige und galante Ollie mit seinem zynischen Humor häufiger in der Öffentlichkeit gezeigt hätte.
Oder wie Autor Robert Sellers es auf den letzten Seiten pointiert in Worte fasst:

"Perhaps the tragedy of Oliver Reed is that he created a persona for himself that he felt obliged constantly to act out in the public arena. It was part of his creative life."

Ob dieses Werk je übersetzt wird, ist mehr als fraglich. Oliver Reed ist im deutschsprachigen Raum wohl nicht populär genug. Allen, die gerne mal englische Bücher lesen, auch Nicht-Fans, lege ich diese Biographie wärmstens ans Herz.



Sonntag, 21. Mai 2017

PHENOMENA (1985)















PHENOMENA

Italien 1985
Regie: Dario Argento
DarstellerInnen: Jennifer Conelly, Daria Nicolodi, Dalila Di Lazzaro, Patrick Bauchau, Donald Pleasance, Fiore Argento, Federica Mastroianni, Michele Soavi u.a.


Inhalt:
Jennifer, Tochter eines amerikanischen Filmstars, wird in ein Mädcheninternat nach Zürich geschickt. Kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz erfährt sie, dass ein besonders grausamer Mädchen-Mörder in der Umgebung sein Unwesen treibt. Als sie sich mit einem Insektenforscher anfreundet, der ihre übernatürliche Gabe erkennt (sie kann mit Insekten telepathisch in Verbindung treten), schmieden die beiden einen gefährlichen Plan, um den Killer ausfindig zu machen...


Jennifer (Conelly)


Der Insektenforscher (Pleasance)


Wenn man mit Filmfreundinnen bzw. Argento-Kennern ins Gespräch kommt oder Diskussionen in diversen Internetforen verfolgt, fällt auf, dass "Phenomena" von Vielen nicht besonders geschätzt wird. Als Favorit aus dem Œuvre des italienischen Kult-Regisseurs wird dieses Werk nur selten genannt. Dies hat diverse Gründe, auf die ich an dieser Stelle allerdings nicht näher eingehen möchte.
Für mich ist "Phenomena" nämlich ein kleines Meisterwerk. Meine Herangehensweise an diesen Film ist in erster Linie von Emotionen geprägt. Man möge mir meine kritiklose Lobhudelei an dieser Stelle nachsehen.

Ein stürmischer Tag in den Schweizer Bergen. Der Gipfel des Säntis wird von einer dichten Wolkenfront verdeckt. Der Wind rauscht hörbar durch Bäume und Wiesen. Die junge Touristin (gespielt von Argentos Tochter Fiore), die gerade den Bus verpasst hat und einsam und verzweifelt an der verlassenen Bergstraße steht, wirkt verloren. Nun setzt Wymans grandioser Soundtrack ("Valley") ein und der Zauber des Films beginnt sich zu entfalten. Man kann die kriechende Kälte förmlich spüren, die äußerlich und wohl auch innerlich Besitz ergreift von dem verzweifelten Mädchen. Die Kamera schwingt in die Lüfte bis hoch zu den sich im Wind beugenden Wipfeln der dunklen Tannen, um die unheilvolle Wetterstimmung einzufangen. Wer je mehr als zwei Genrefilme gesehen hat, erkennt das Unvermeidbare und weiß an dieser Stelle, dass das Haus, in dem das Mädchen Zuflucht sucht, ihr Verderben bedeuten wird.
Der Effekt mit den an der Wand befestigten Ketten, von denen sich jemand oder etwas durch ruckartige Bewegungen zu befreien versucht, ist einfach und zugleich verdammt effektiv. Wir sehen die Bedrohung nicht. Genau wie das Opfer. Nach einem ersten erfolglosen Angriff durch das unbekannte Böse jagen wir als ZuschauerInnen aufgrund der Kamera-Perspektive schließlich das erbarmungswürdige Mädchen selbst.
Diese Eingangssequenz ist ein künstlerischer Geniestreich.

Jennifer Corvino ist ein Charakter mit phänomenaler (!) Tiefgründigkeit. Ihre Unverdorbenheit, ihr Staunen über ihre eigene übersinnliche Fähigkeit und ihr Mut machen sie zu einem ganz besonderen Mädchen.
Die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 15 Jahre alte Jennifer Conelly war (kann man aus heutiger Sicht nach der Nasen-Korrektur jetzt so nicht mehr unterschreiben) von wahrer natürlicher Schönheit. Sie sieht in jeder Situation und aus jedem Winkel umwerfend hübsch aus.
Ihre Aura der kindlichen Reinheit wird von den zumeist weißen geschmackvollen Outfits (designt von niemand Geringerem als Giorgio Armani) hervorgehoben.
Jennifer strahlt von Außen und Innen. Ihr durchdringender intensiver Blick aus den großen Augen, der trotz aller Schrecklichkeiten, die sie erleben muss, immer wach und stolz bleibt, stehen im Zentrum vieler Szenen. Das zurückhaltende, doch präsente Schauspiel Conellys ließ damals schon erahnen, dass sie das Potential hat, zu den ganz Großen im Geschäft zu gehören.


Jennifers sichtbare Verbindung zu Insekten - hier eine Biene


Durch Jennifers magische Verbindung zu Insekten wirkt sie auch in gefährlichen Situationen souverän, agiert überlegt und letztendlich sicher. Deshalb wirkt die Tatsache, dass sie den Vorschlag des Professors, sich auf Mördersuche zu begeben, annimmt, nicht unrealistisch.
Ihre Entscheidung steht im Einklang mit ihrer starken Persönlichkeit und dem Verhalten, das sie zuvor gezeigt hat.
Jennifer ist eine für einen Horrorfilm sehr eigenwillige und untypische Darstellerin. Während es eine ungeschriebene Genre-Regel zu sein scheint, Frauen in Gefahr als hysterische, häufig überforderte Opfer darzustellen, wirkt sie trotz allem wie die Herrin der Lage oder zumindest ihrer Sinne.
Sie lässt sich auch von der dominanten Schulleiterin und einem Arzt nicht verunsichern, als diese ihr aufgrund des Schlafwandelns eine psychische Erkrankung einreden möchten und verweigert resolut eine körperliche Untersuchung.
Bei manchen Horrorfilmen stört mich diese klischeehaft überspitzt zur Schau gestellte, kopflose und sinnlose Panik der Darstellerinnen (vgl. das Kendall-Panik-Drama in Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe bzw. die Nicolodi-Show in Mario Bavas Shock) besonders.
Im starken Kontrast zu den sogenannten "Scream-Queens", die zum Enstehungszeitpunkt von "Phenomena" das amerikanische Horror-Kino maßgeblich prägten, schreitet unsere Heldin Jennifer mit Überlegtheit und Sicherheit durch ihren schlimmsten Alptraum in den Schweizer Alpen.
Ihre innere Ruhe leistet neben der rational nicht fassbaren oder deutbaren Handlung des Films einen wesentlichen Beitrag zu dieser konsistent surrealen Alptraum-Atmosphäre, die durch zahlreiche Kamera-und Licht-Effekte kreiert wird.

Ich wage zu behaupten, dass Dario Argento nicht allzu oft dermaßen professionell agierende Frauen und Männer vor der Kamera hatte wie bei "Phenomena".
Neben Conelly ist auch der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 16 Jahre alten Federica Mastroianni, die Jennifers Zimmerkollegin Sophie spielt, Anerkennung zu zollen. Die Nichte des berühmten Marcello Mastroianni hätte vermutlich auch das Zeug für eine größere Karriere gehabt, aber ihr Ausflug ins Filmbusiness währte nur kurz.
Donald Pleasance in der Rolle des an den Rollstuhl gefesselten Insektenforschers trägt durch sein authentisches Schauspiel ungemein zur stimmigen Atmosphäre bei.
Daria Nicolodi stellt ihre Hyperaktivität in Gegenwart einer Filmkamera wieder einmal ungehemmt zur Schau. Ihr Wahnsinn kennt keine Grenzen. Durch die absolut schräge Wendung des Films, die er im letzten Drittel nimmt, wirkt das Schauspiel der damaligen Argento-Lebensgefährtin jedoch nicht zu aufgesetzt und passt zu dem nunmehr radikal beschleunigten Tempo der Handlung.

Neben der zeitlos schönen, etwas gespenstischen, doch auch träumisch-melancholischen Instrumentalmusik, Songs der Metal-Bands "Iron Maiden" und "Motörhead" auf die Tonspur zu legen, kann getrost als tollkühn bezeichnet werden. Verständnislose Reaktionen beim Publikum waren damit ebenso vorprogrammiert wie vernichtende Kritiken:
"Langatmiges, primitiv inszeniertes Horror-Spektakel, das mit blutrünstigen Schockeffekten und penetrant eingesetzter Heavy-Metal-Musik Spannung zu erzeugen versucht." (Lexikon des internationalen Films)

Auf dem OST Album sind des Weiteren Songs von Andi Sex Gang (Sänger von Sex Gang Children) vertreten. Ich persönlich mag die genannten Bands und freue mich über die Wahl der Filmmusik. Aber es ist nachvollziehbar, dass wenn man nichts mit dem Sound anfangen kann, dieser die Atmosphäre unterbricht und den Zugang zum Gesamtwerk erschwert.
In einigen Szenen sind die Songs dermaßen dominant, dass der Film für ein paar Minuten wie ein Musikvideo wirkt.
Eine geeignete musikalische Untermalung für ein potentiell (kommerziell) risikofreudiges Endprodukt. Applaus für diesen musikalisch anarchischen Regiestreich.


"Grüezi" und Willkommen in der Schweiz

Zürich und Umgebung bieten die perfekte Kulisse für diesen Film. (Meine Drehortfotos findet ihr hier)
Das reaktionäre, streng geführte Eliteinternat ausgerechnet in der Schweiz anzusiedeln, ist per se schon sehr nahe an der Realität.
Den Föhnwind, der sich auf die psychische Verfassung der Menschen auswirkt, für besonders abartige und grausame Verbrechen ursächlich zu machen, ist ebenfalls ein sehr interessanter Ansatz. Tatsächlich gilt es als erwiesen, dass der Alpenföhn auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen einen wesentlichen Einfluss haben kann.
Die Missbildung des Killers ist laut Argentos eigener Aussage angelehnt an das Pätau Syndrom (auch genannt Trisomie 13), einem durch Mutation ausgelösten Chromosomendefekt.
Die wichtige Rolle von Insekten bei der Aufklärung von Mordfällen basiert auf einer tatsächlich existenten wissenschaftlichen Forschung.
Argento hat all diese reellen Grundlagen in sein Drehbuch eingearbeitet und phantasievoll weiterentwickelt.

Die klaustrophobische Atmosphäre, in der die junge Amerikanerin gefangen ist, entsteht zum Teil durch den Umstand, dass Jennifer sich gegen ihren Willen abgeschottet von der Außenwelt in einer quasi geschlossenen Gesellschaft (Internat) und fremden Kultur befindet. Sie sitzt fest an einem für sie fremden Ort. Rundum menschenleere abgelegene Wälder und Wiesen, eingekesselt von hohen Bergen. Eine unwirtliche Gegend, in der ein Mörder sein Unwesen treibt. 

Da sich beinahe alle Menschen Jennifer gegenüber feindselig verhalten, stellt die unerwartete und selbstlose Unterstützung des Mädchens aus dem Tierreich einen Lichtblick in einem von Bedrohung und Düsternis beherrschten Umfeld dar. Gänsehaut-Potential besitzt die Szene, in der Jennifer von ihren Mitschülerinnen verspottet und drangsaliert wird und dann mit Tränen in den Augen auf der Türschwelle innehält. Plötzlich verändert sich ihre Mimik, die zuvor sichtbare Anspannung löst sich. Wenn das Mädchen gelassen nach rechts und links blickt und mit Wind in den Haaren den zur Hilfe eilenden Insekten "I love you! I love you all!" zuraunt, ist das schlichtweg bewegend.

Auch wenn man die gialloesken Ansätze der Geschichte nicht verleugnen kann, hält Argento sich bei "Phenomena" weder an klare Konventionen noch ungeschriebene Regeln des Genrekinos.
Er entsendet sein Publikum gemeinsam mit seiner Protagonistin auf einen schlafwandlerischen, dunklen Trip in die Hölle. Das Grauen wird nur zum Teil durch heftige Gore-Effekte und Ekel-Szenen erzeugt. Es lauert über einen längeren Zeitraum latent im nicht sichtbaren Bereich. Es entzieht sich unserer Wahrnehmung sowie unserem Vorstellungsvermögen.
"Phenomena" schlägt nicht die selbe Richtung ein wie der für die 80er Jahre archetypische Horrorfilm, sondern hält sich an das Vorbild aller guten Märchen, in denen Kinder oder Heranwachsende gegen das Böse kämpfen.

Noch eine Anmerkung zur jüngsten Veröffentlichung von Arrow: Es handelt sich hierbei um eine Abtastung in 4K vom Original Kamera-Negativ. Das Besondere daran ist neben dem ausgezeichneten Bild die Anpassung des englischen Tons an die italienische Langfassung.
Für alle, die wie ich den Film in englischer Sprache bevorzugen, stellt diese die Krönung aller "Phenomena" Editionen dar.




Foto: NostalgikerInnen können sich nicht einmal  von der JPV Austria (Bootleg-)Videokassette trennen




Foto: Digipak von Dragon




Foto: Italienische DVD von Medusa und Blu Ray von XT im Mediabook





Foto: Arrow Video Box mit allen drei Fassungen - für alle "Phenomena" Freaks




Foto: OST von Goblin (Instrumental)






Foto - aufgenommen 2006 im Profondo Rosso Museum (Rom)




Sonntag, 7. Mai 2017

FEMINA RIDENS (1969)















THE FRIGHTENED WOMAN
THE LAUGHING WOMAN

Italien 1969
Regie: Piero Schivazappa
DarstellerInnen: Dagmar Lassander, Philippe Leroy, Loranza Guerrieri, Varo Soleri, Maria Cumani Quasimodo, Mirella Pamphili u.a.


Inhalt:
Dr. Sayer, der in einer wohltätigen Organisation Mitglied ist, führt ein Doppelleben. In seiner Freizeit bezahlt er Prostituierte dafür, dass sie sich von ihm erniedrigen und misshandeln lassen. Eines Tages entführt er seine Mitarbeiterin Maria und hält sie in seiner Luxuswohnung gefangen.
Doch Maria will sich dem Opfer-Dasein nicht beugen...


"Töte sie, bevor sie dich verführt" scheint das Motto des
sexuell fehlgeleiteten Akademikers (Leroy) zu sein


Maria (Lassander), eine Frau mit vielen Facetten - Hyäne,
Skorpion oder doch ganz harmlos? 


Dr. Sayers öffentliche Fassade ist die eines allseits respektierten Mannes, der sich für Menschenrechte engagiert. In seinem verborgenen Privatleben agiert er jedoch als ein sexuell frustrierter, vom weiblichen Geschlecht zutiefst verunsicherter Mann.
Er ist nicht in der Lage, eine erwachsene Beziehung auf Augenhöhe zu führen oder eine unbeschwerte Sexualität zu leben. Seine tief sitzende Angst vor Frauen versucht er mit Dominanzverhalten und Demütigungen bis hin zum Sadismus zu kompensieren.
Kein Wunder, dass er sich ausgerechnet Maria zur Befriedigung seiner niederen Instinkte aussucht. Maria ist nämlich jene Frau, die eines Tages selbstsicher in seinem Büro steht und ihm aus tiefster Überzeugung verklickern will, dass die Kastration von Männern das einzige adäquate Mittel ist, die Welt vor einer Überbevölkerung zu retten.
Also versucht er ihr auf diese Ansage hin zu zeigen, wo der Hammer hängt und wer das stärkere Geschlecht ist.

Kaum in seiner ultramodernen, doch unpersönlich-steril eingerichteten Luxuswohnung eingesperrt, verhält sich das freche Weibsbild so, dass sie für ihn keine Bedrohung mehr darstellt. Maria unterwirft sich und spielt die von Voyeurismus und Sadismus geprägten Rollenspiele des perversen Akademikers brav mit. Denkt er...
Bevor dem Mann ernsthafte Zweifel am Verhalten seines Entführungsopfers kommen, dreht sie den Spieß geschickt um und dirigiert die von ihm vorgegebenen Situationen in eine von ihr definierte Richtung.
Doch sobald sie ihm körperlich zu nahe kommt, wittert er Gefahr und unterbindet das in ihm entflammte sexuelle Begehren durch gewalttätige Aktionen gegenüber der Frau.
Ein erotisch aufgeladenes Katz- und Maus-Spiel nimmt seinen (tragischen) Lauf...

Durch ausdrucksstarke Mimik und vollen Körpereinsatz der Protagonisten Philippe Leroy (Yankee, Milano Kaliber 9) und Dagmar Lassander (Sonne, Sand und heiße Schenkel, "Hatchet for the Honeymoon") ist der Film angenehm kurzweilig ohne sich in den Fängen unfreiwilliger Komik zu verheddern.
Doch das i-Tüpfelchen auf diesem ästhetisch stilsicheren Zeitdokument der 68-er Generation und der sexuellen Revolution ist ohne Zweifel der Soundtrack von Stelvio Cipriani.
Für "Femina Ridens" hat der hochbegabte Komponist einen vielseitigen und besonders stimmungsvollen Soundtrack geschaffen, der leicht ins Ohr geht und sich durch die Ohrmuschel ganz tief bis in die innersten Gehirnwindungen quetscht, wo er sich beim Gros der HörerInnen dauerhaft einnistet.
Wäre der Film einem größeren Publikum bekannt (geworden), wäre die Szene, in der Dagmar Lassander nur notdürftig verhüllt zu dieser Lounge Music Nummer namens "Sophisticated Shake" lasziv vor den Augen des faszinierten Dr. Sayer tanzt, wohl in die Filmgeschichte eingegangen.
Der kaum verhohlene schwarze Humor, der dem Drehbuch zugrunde liegt, gipfelt schließlich in der finalen Szene im Swimming Pool, die von Cipriani passenderweise mit einem Score, der jedem Italowestern Duell die passende Atmosphäre verleihen würde, unterlegt wurde.

Die italienischen Regisseure waren damals für ihre besonders unorthodoxen Methoden und originellen Produktionsbedingungen bekannt. Es wurde von anderen (oft amerikanischen) Filmen hemmungslos und ohne nur im Ansatz etwas zu verbergen geklaut, was das Zeug hielt. Drehen ohne Genehmigung galt beinahe als Kavaliersdelikt (eines der berühmtesten Beispiele lieferte wohl Lucio Fulci, der auf der Brooklyn Bridge in New York ohne Erlaubnis Szenen für Woodoo - Die Schreckensinsel der Zombies filmte) und Verfolgungsjagden in Mailand, Rom und anderen Städten wurden schon mal spontan in der Rush-Hour inszeniert.
In diesem Kontext erscheint es nicht verwunderlich, dass sich Schivazappa partout nicht erinnern kann, ob die namhafte Künstlerin Niki de Saint Phalle um Erlaubnis gefragt wurde, als sich das Filmteam daran machte, eine ihrer berühmtesten Skulpturen (vgl. "Hon" von Niki de Saint Phalle) für den Dreh nachzubauen und mit einem speziellen Extra (die mit Zähnen besetzte Tür) zu versehen. Der voluminöse Frauenkörper mit der begehbaren Vagina spielt zwar nur eine kurze, aber wichtige Rolle im Film.

"Femina Ridens" ist einer dieser unpopulären obskuren italienischen Filme, der jegliche Genregrenzen sprengt und aus jedem Filmkorn das Flair der bunten End-Sechziger und frühen Siebziger Jahre verströmt.
Ein Film, der die Intention des Regisseurs, ganz und gar erfüllt. Denn laut Schiavazappa selbst ging es ihm vorrangig um Unterhaltung.
Einen tiefgründigen Geschlechterkampf oder Feminismus-Subtext anhand der seichten Handlung zu konstruieren wäre meiner Meinung nach ähnlich übers Ziel hinaus geschossen wie diese überstrapazierten Gesellschaftskritik-Interpretationen, mit denen manche Menschen ihrer Vorliebe für Zombie-Filme eine intellektuell gefärbte Rechtfertigung zu verleihen versuchen.

Doch zurück zu "Femina Ridens". Diesen Film in den 60er Jahren, noch dazu in einem von Katholizismus dominierten Land zu produzieren, würde ich als ordentlich risikofreudig bezeichnen.
Es kam naturgemäß, wie es kommen musste – der Film wurde am 10. September 1969 in ganz Italien kurzerhand beschlagnahmt und nachdem ein paar Bilder der Schere zum Opfer fielen am 03. Oktober des selben Jahres wieder freigegeben. Ein besonderer Erfolg war ihm nicht beschieden und es darf bezweifelt werden, dass viele Kinos motiviert waren, "Femina Ridens" in ihr Programm aufzunehmen.
Dennoch hat er die Jahrzehnte überdauert und ist nicht in Vergessenheit geraten, sondern hat sich zu einem Geheimtipp unter italophilen CineastInnenen gemausert.
Mit viel extravagantem Stil versehen ist Schivazappa mit "Femina Ridens" ein Werk voller augenzwinkernder Symbolik gelungen, an dem man als Fan des italienischen Kinos nicht vorbeikommt.




Foto: "Femina Ridens" wurde erfreulicherweise in die Giallo-Box von Koch Media "gemogelt"
           Mitte oben: DVD von "Shameless"




Für alle EnthusiastInnen und Fanboys und - girls des Italienischen Kinos: "Femina Ridens" - Auszug des Cineromanzo, abgebildet im Buch "Psychopathia Sexualis in Italian Sinema"




Montag, 1. Mai 2017

OPERAZIONE PAURA (1966)















DIE TOTEN AUGEN DES DR. DRACULA

Italien 1966
Regie: Mario Bava
DarstellerInnen: Giacomo Rossi Stewart, Erika Blanc, Fabienne Dali, Piero Lulli, Luciano Catenacci, Valerio Valeri, Giovanna Galletti, Micaela Esdra u.a.


Inhalt:
Dr. Paul Eswai wird von Inspektor Kruger für eine Obduktion in das abgeschiedene Dörfchen Karmingen gerufen. Er trifft dort auf eine eingeschworene, zutiefst abergläubische Gemeinschaft mit eigentümlichen Sitten und Gebräuchen. Besonders vor dem nahe gelegenen Schloss Graps scheinen sich die Dorfbewohner zu fürchten. Gemeinsam mit seiner neuen Bekannten Monica macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Schon bald soll er herausfinden, was hinter den unerklärlichen Todesfällen unter den Einwohnern steckt...


Dr. Eswai (Stewart) und Monica (Blanc) in Angst


Gespenstisch: Die kleine Melissa (Valeri)


Ich kann mich nicht erinnern, wann mir ein Film das letzte Mal dermaßen die Sprache verschlagen hat und mich ehrfürchtig auf die Leinwand starren ließ wie "Die toten Augen des Dr. Dracula" bei der der jüngsten Sichtung.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der Meinung, dass der Genuss des Films auf dem zweiten Terza Visione Festival in Nürnberg mein persönliches Highlight war. Aber ihn nun in Form einer restaurierten HD Fassung auf einer zwar kleineren, aber immerhin 100 Zoll großen Leinwand zuhause sehen zu dürfen, war ein besonderes Erlebnis.

Die erste Szene, in der die Angestellte der Baronesse Graps wie von unsichtbaren Dämonen getrieben um ihr (Über-) Leben kämpft, ist eine würdige Einstimmung auf eine in höchstem Maße ästhetische und in sich stimmige morbide Fabelwelt.
Perfektionist Mario Bava hat nichts dem Zufall überlassen. Jede Kameraeinstellung, die Maske, die Kostüme sowie die Außen- und Studioaufnahmen wurden akribisch aufeinander abgestimmt.
Am Himmel, der sich bereits langsam verdunkelt, glimmen noch sanfte Orange- und Gelbtöne. Die scharfen tödlichen Spitzen des Zauns, denen die Frau mit einer angstverzerrten Grimasse voller Verzweiflung entgegen blickt, scheinen von innen heraus bedrohlich zu leuchten.


Morbide Ästhetik so weit das Auge reicht


Die formvollendeten Bildkompositionen und die mit Feingefühl selektierten, je nach Szene unterschiedlich dominanten Farben, sind künstlerischer Ausdruck eines Regie-Genies.
Mario Bava, der zu Lebzeiten niemals erahnen hätte können, welch Ruhm und Ehre ihm posthum zuteil werden würde, hat mit "Die toten Augen des Dr. Dracula" ein Werk von zeitloser Eleganz geschaffen.
Seine Kreativität lebte er nicht nur bei der Auswahl von Drehorten und Gestaltung der Sets und Kostüme, sondern auch durch die Verwendung diverser Filmtechniken aus.
Folienfilter kamen ebenso zum Einsatz wie starkes Zoom, Unschärfen, Verzerrungen durch die Verwendung entsprechender Objektive oder rückwärts gedrehte Szenen.

Das Kind mit den großen, im schmalen Gesicht deutlich hervorstehenden Augen und dem stechenden Blick, war der kleine Valerio Valeri. Dadurch, dass Melissa Graps in Wirklichkeit von einem blässlichen Jungen mit Perücke gespielt wird und die Bewegungen zum Teil rückwärts gedreht wurden, wirkt die Unheil und Tod verkündende Geistererscheinung in besonderem Maße widernatürlich und verstörend.


Verfall kann so schön sein


Einen wesentlichen Beitrag zur gespenstischen Atmosphäre leistet auch das verfallene Dorf mit den bröckelnden Fassaden, Ruinen und moosüberwucherten Steinen, das sich die Natur schon teilweise zurückerobert hat. Bava stellt mit seinem Drehort-Konzept unter Beweis, dass man nicht unbedingt nach Venedig reisen muss, um eine ebenso ästhetische wie morbide Umgebung einzufangen.
Beschlagene Fensterscheiben, wabernder Nebel und diffuses Licht tragen ihr Übriges zum schaurigen Erscheinungsbild des Dorfes bei.


Umwerfend: die zauberkundige Ruth (Dali)


Furchteinflößend: Baronesse Graps (Galletti)


Dr. Eswai (Giacomo Rossi Stewart) als vernunftbetonter, bodenständiger Arzt wirkt wie ein Fremdkörper in der von Angst und Aberglauben geleiteten Dorfgemeinschaft.
Ihm zur Seite steht die ebenfalls von außerhalb kommende Monica (Erika Blanc, u.a. bekannt aus "Hexen – Geschändet und zu Tode gequält"), die in dem Ort quasi auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln ist.
Zwei Frauen jedoch stechen neben prominenteren Gesichtern wie Piero Lulli (Töte, Django) oder Luciano Catenacci (Malastrana, Der Berserker) besonders aus dem Cast hervor:
Die belgische Schauspielerin Fabienne Dali als zauberkundige Beschützerin umgibt in diesem Film eine Aura, wie man sie sonst von einer Barbara Steele kennt: Geheimnisvoll, unnahbar und gleichzeitig Respekt einflößend.
Diese Frau tritt nicht auf, sie erscheint. Bereits in Melvilles "Der Teufel mit der weißen Weste" (1962) stellte sie ihr Charisma eindrucksvoll zur Schau.
Und was wäre "Die toten Augen des Dr. Dracula" ohne die großartige Darbietung der italienischen Mimin Giovanna Galletti als verbitterte, geistig verwirrte, aber umso gefährlichere Baronesse Graps?
Für mich sind Dali und Galetti die heimlichen, eigentlichen Stars des Films.

Indem Bava räumliche Distanzen und zeitliche Abläufe immer wieder neu arrangierte und durcheinanderwirbelte, gelang es ihm den Realitätsbezug in einigen Szenen komplett auszuhebeln.
Die von ihm kreierte somnambule Welt entzieht sich in vielen Bereichen unserem logischen Denken.
"Die toten Augen des Dr. Dracula" ist wie ein Trip in eine andere, rätselhafte Dimension.
Die teils nebulöse Geschichte rund um die mysteriöse Melissa Graps und die Ereignisse im und nahe dem Schloss bleiben unerklärlich und inspirieren bis heute zahlreiche KritikerInnen und begeisterte Fans zu diversen Hypothesen und Deutungen.
Bavas Kunstwerk ist nun schon über ein halbes Jahrhundert alt, doch alles andere als angestaubt.
Für mich ist "Die toten Augen des Dr. Dracula" ein Film, der mich von Anfang an in seinen Bann gezogen hat und mich bei jeder Sichtung in den letzten zehn Jahren wieder verzaubert wie beim ersten Mal.




Foto: DVD von Anolis




Foto: DVD aus der Mario Bava Box von Anchor Bay





Foto: Blu Ray von Koch Media - die ultimative VÖ