Mittwoch, 29. April 2020

LES LÈVRES ROUGES (1971)














BLUT AN DEN LIPPEN

Belgien, Deutschland, Frankreich 1971
Regie: Harry Kümel
DarstellerInnen: Delphine Seyrig, Danielle Ouimet, John Karlen, Andrea Rau, Paul Esser, Fons Rademakers u.a.

Inhalt:
Das frisch vermählte Paar Valerie und Stefan machen auf ihrer Hochzeitsreise Halt in einem Hotel in Ostende. Dort sind sie saisonbedingt zunächst die einzigen Gäste. Doch unerwartet quartiert sich die mysteriöse Gräfin Bathory mit ihrer Assistentin ebenfalls in der Unterkunft ein. Die vornehme Adlige gibt sich große Mühe, mit dem attraktiven jungen Paar in Kontakt zu kommen. Was führt sie im Schilde?


Ein nettes Paar - auf den ersten Blick


Die Verführungskünstlerin in Aktion


"Blut an den Lippen" ist ein über weite Strecken leiser Film, ein fast Kammerspiel-artiges Drama rund um das junge Paar Valerie und Stefan. Zwischen den beiden knistert es gewaltig, jedoch nicht, wie man anfänglich vermuten könnte, nur wegen den berühmten Schmetterlingen im Bauch und der sexuellen Anziehungskraft.
Stefan hat eine finstere und unangenehme Seite, die seiner Frau sichtlich Unbehagen bereitet, wann immer diese gerade an die Oberfläche seiner Persönlichkeit tritt. Valerie hat außerdem Schwierigkeiten, mit der Faszination und (sexuellen) Erregung ihres Mannes angesichts von Tod und Gewalt, umzugehen.
Was sie ängstigt und ekelt, bereitet ihm nicht nur Vergnügen, er verlangt regelrecht danach. Auch sein in immer kürzeren Abständen zutage tretendes despotisches Auftreten bereitet Valerie Sorge.
Doch verklärten Blickes durch ihre rosarote Brille verkennt sie das volle Ausmaß von Stefans Störung, das der Zuseherin und dem Zuseher bereits etwas früher bewusst wird.

Als wäre die Dynamik zwischen dem frisch vermählten Paar nicht schon kompliziert genug, kommt noch eine dritte Partei ins Spiel.
Die exzentrische Gräfin Bathory, die vorgibt, sich mit dem Paar anfreunden zu wollen, sorgt mit ihrem Verhalten für eine Zunahme der Spannungen und Zuspitzung der Konflikte zwischen den Eheleuten.
In Wahrheit hat sie es auf die schöne Valerie abgesehen und verfolgt von Beginn an den hinterhältigen Plan, das Paar zu entzweien.

Im Grunde genommen hat man es bei "Blut an den Lippen" nicht vordergründig mit einem Vampirfilm, sondern eher mit einem Beziehungsdrama mit dezenten Anleihen aus Blutsauger-Fabeln zu tun, was natürlich ein gewisses Genre-affines Publikum eher zum Gähnen animieren könnte. Zumindest, wenn man sich für die dominante zwischenmenschliche Komponente des Drehbuchs eher nicht interessiert.

Besonders facettenreich ist die Persönlichkeit von Stefan. Vieles deutet darauf hin, dass die Beziehung mit Valerie der mäßig erfolgreiche Versuch ist, seine eigenen tabuisierten sexuellen Vorlieben und vielleicht auch seinen Hang zum Fetischismus zu verdrängen.
Seine speziellen Neigungen lassen sich, so sein Trugschluss, hinter der bürgerlichen Fassade einer Ehe gut verstecken. Stefans Bemühen, der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen, ist eher naiver Natur und zum Scheitern verurteilt. Spätestens bei seinem denkwürdigen Telefonat mit seiner "Mutter" wird deutlich, dass auch die angedeutete Beziehung zu dieser Person ein Beweggrund für das Versteckspiel ist.
Valerie wird als die naive junge Schönheit dargestellt, die ihren Gefühlen folgt und im Rausch der Verliebtheit nicht nur auf ihre eigene Befriedigung verzichtet, sondern sogar Schläge und verbale Demütigungen in Kauf nimmt. Aufgrund ihres mangelnden Durchsetzungsvermögens wird sie zum Spielball zwischen ihrem Ehemann und der Gräfin Bathory. Möge der oder die stärkere den Hauptpreis gewinnen.
Während Stefan als männlich-dominant bis offen aggressiv skizziert wird, erfüllt die Gräfin Bathory ihrerseits die gängigen weiblichen Rollenklischees. Sie ist nach Außen freundlich und sehr auf Etikette bedacht und setzt ihre Waffen auf hinterhältige Weise ein. Die Adlige führt keinen offenen Kampf, sondern spinnt Intrigen und verführt durch Lügen.
Ihre Assistentin Ilona ist ebenso Opfer wie Valerie.


Von absolut anmutiger Eleganz: Delphine Seyring


Die französische Schauspielerin Delphine Seyring ist nicht nur berückend attraktiv, sondern spielt ihre Rolle als Vampir Gräfin mit einer unvergleichlichen Eleganz. Dabei ist es nicht nur ihre äußerliche Aufmachung, also ihr Kleidungsstil und das Make Up, die sie zu einer eindrucksvollen Erscheinung machen. Die Aristokratie strömt ihr förmlich aus jeder Pore.
Es ist ihre Sprache, die Intonation ihrer Stimme, ihre Bewegungen, die dem Publikum deutlich machen, mit welchem Kaliber von Darstellerin man es hier zu tun hat. Selbst wenn man nicht weiß, dass Seyring in bedeutsamen und international als Kunst angesehenen Filmen wie "Letztes Jahr in Marienbad" und anderen exquisiten Produktionen mitgewirkt hat.
Wer statt austauschbaren Mainstream Frauchen lieber den exzentrischen Filmdiven, die es in dieser Art heutzutage beinahe gar nicht mehr gibt (oder für die es kaum Rollen gibt), beim Spielen zusieht, kommt bei diesem Film ganz eindeutig auf seine Kosten.

Neben Delphine Seyring schmeicheln die teils ikonischen Bilder, die der Kameramann in unterschiedlichen Sets eingefangen hat, den Augen.
Auch das Beleuchtungskonzept scheint bemerkenswert durchdacht und verleiht dem Film eine kunstvolle Note. Die Außenaufnahmen vom verlassen wirkenden Ort an der Atlantikküste fügen sich wunderbar ein in die Atmosphäre von Einsamkeit, die jeden einzelnen der Hauptcharaktere umgibt.
Das einzigartige Flair der Stadt Brügge, in die das Ehepaar einen Tagesausflug macht, wurde in bemerkenswerten Fotografien auf Zelluloid gebannt.
Der Kurzaufenthalt des Paars in der Stadt ist insofern wichtig, da er schließlich richtungsweisend für den weiteren Verlauf des Films ist.
Er stellt eine Art Bruch dar, denn dort haben Stefan und Valerie die erste gemeinsame Begegnung mit dem Tod. Dabei lernen sie viel über sich selbst und ihre Beziehung. Es ist der erste sichtbare Kratzer an der Fassade dieser noch jungen und stürmischen Liebesbeziehung.

Die zur Schau gestellte Langsamkeit der Erzählung wird von der ersten Minute bis zum Abspann zelebriert und die melancholische eingängige Musik trägt auf wundervolle Weise zum Gesamtkunstwerk bei.
"Blut an den Lippen" ist ein Film, für dessen Zauber wohl nicht alle empfänglich sein mögen.
Aber wenn, dann umgarnt und verführt er die Seele seines Publikums auf die selbe subtile, jedoch zielstrebige Art und Weise wie die unsterbliche Gräfin Bathory.




Foto: VÖ von Blue Underground und dem Label Bildstörung