Sonntag, 22. Mai 2022

I CRUDELI (1967)


 







DIE GRAUSAMEN

Italien, Spanien 1967
Regie: Sergio Corbucci
DarstellerInnen: Joseph Cotten, Norma Bengell, Aldo Sambrell, Julián Mateos, Ángel Aranda, Gino Pernice, Claudia Gora u.a.

Inhalt:
Südstaaten Offizier Jonas Morrisson möchte seiner Armee einen Vorteil verschaffen und raubt mithilfe seiner drei Söhne einen Geldtransporter der Nordstaatler aus. Mit der Beute, die sie in einem Sarg verstecken, ziehen sie durch ein von Yankees besetztes Gebiet. Hilfe erhalten sie, wenn auch nicht ganz freiwillig, von der Profi-Pokerspielerin Claire, die vorgibt, den Sarg ihres toten Mannes auf ihre Ranch transportieren zu wollen. Der (angeblich) verblichene Gatte ist bei den Nordstaatlern jedoch kein Unbekannter, was zu einigen Schwierigkeiten und schließlich sogar zur Gefährdung des gesamten Plans führt…


Das fanatische Familienoberhaupt (Cotten)


Die Brüder schleppen den Sarg mit der Beute


Als ich vor Kurzem zum ersten Mal den Italowestern "Die Grausamen" gesehen habe, kam mir direkt der Dialog aus Quentin Tarantinos Film "Once upon a time in Hollywood" in den Sinn, in dem Regisseur Sergio Corbucci vom einflussreichen Filmproduzenten Schwarz (Al Pacino) als "(...)the second best director of Spaghetti Westerns in the whole wide world!" bezeichnet wird.
Dieser Aussage würde ich jedenfalls mit Sicherheit zustimmen. Immerhin hat uns Corbucci neben dem für das Italowesterngenre wegbereitenden "Django" auch brillante und stilprägende Filme wie Leichen pflastern seinen Weg oder "Mercenario - Der Gefürchtete" beschert.

Der eher wenig bekannte "I crudeli", für den niemand Geringerer als Meisterkomponist Ennio Morricone unter dem Pseudonym Leo Nichols den Soundtrack schuf, ist zwar auf der Ebene von Intensität, Dramatik und Tiefgründigkeit nicht auf der selben Stufe mit einem der oben genannten Titel. Dennoch würde ich "Die Grausamen" als einen durchgängig unterhaltsamen und flüssig erzählten Film bezeichnen.
Die Story rund um den fanatischen Colonel Morrisson (Joseph Cotten, u.a. bekannt aus Gangster sterben zweimal oder Baron Blood), der mit seinen Söhnen und der eher unfreiwillig involvierten und wenig motivierten Claire (Norma Bengell) auf seiner fanatischen Mission, den Südstaatlern Geld zu liefern, durch das Gebiet der Yankees reitet, plätschert vergnüglich vor sich hin und wird zu keiner Minute unnötig in die Länge gezogen. Ähnlich wie in Corbuccis "Laßt uns töten, Companeros" ist "Die Grausamen" gespickt mit originellen Ideen und die Hauptcharaktere tappen von einem Fettnäpfchen ins Nächste.

Etwas ungewöhnlich erscheint der Umstand, dass wir es bei diesem Italowestern mit vornehmlich unsympathischen und zweifelhaften Charakteren, die wenig Identifikationspotential besitzen, zu tun haben. Immerhin ist der Colonel auf der Seite der Südstaaten, also gegen die Abschaffung von Sklaverei. Zudem hat er mit seinen gewaltbereiten Söhnen nicht nur einen Überfall begangen, sondern auch kaltblütig gemordet und eine Frau genötigt, sie zu begleiten. Irgendwie ist das nach Außen hin stolze Familienoberhaupt der Morrissons beinahe eine tragische Gestalt, da er immer noch nicht wahrhaben will, dass der Krieg bereits verloren ist. Er hängt dem Irrglauben an, durch seine aussichtslose Mission das Ruder doch noch herumzureißen und den Lauf der Geschichte ändern zu können.
Nein, die Mitglieder der Familie Morrisson sind wahrlich keine sympathischen Gesellen. Sie sind in der Tat unnötig grausam und hinterlassen überall Spuren von Gewalt. Ehrgefühl ist für sie ein Fremdwort.
Der sowohl vor Dreck als auch Durchtriebenheit strotzende Familienverband wird durch die Profi Pokerspielerin Claire schließlich auf eine harte Probe gestellt. Die selbstbewusste und attraktive Lady lässt sich nicht so leicht einschüchtern und ist zum Leidwesen des Familienoberhaupts nicht so fügsam und beeinflussbar wie ihre (von ihm ermordete) Vorgängerin. Claire verteidigt ihre Prinzipien und ihr Flirt mit einem der Morrisson Jungs führt zu Eifersüchteleien zwischen den Cowboys.
Ihr geschicktester Schachzug bringt die Südstaatler Familie in arge Bedrängnis, da sie sich plötzlich inmitten eines Yankee Forts wiederfinden und ihre Kriegsbeute bei der ganzen Aktion beinahe verloren geht.
Allzu viel sollte man nicht verraten, denn das Drehbuch lebt zu einem beachtlichen Teil von Überraschungsmomenten und amüsanten Wendungen.


Die faszinierende Claire (Norma Bengell)


Die brasilianische Schauspielerin und Regisseurin Norma Bengell, die die mutige und intelligente Pokerspielerin Claire mimt, ist die eigentliche Heldin des Films. Wenn man weiß, dass Bengell sich ab den Siebziger Jahren in ihrem Heimatland für feministische Themen stark gemacht hat, könnte man den Rückschluss ziehen, dass sie das Drehbuch vorab nicht nur gründlich gelesen, sondern die Rolle auch ganz bewusst ausgewählt haben muss.
Entgegen den Western-Genreklischees spielt sie in "Die Grausamen" eine charakterstarke Frau, die sich nicht so leicht unterkriegen lässt und ihre Meinung trotz ihrer misslichen Lage unverhohlen vertritt.
Die Kostüme und Requisiten und auch die Nebendarsteller wirken heruntergekommen, durch und durch schmutzig und mit ihren ledergegerbten Gesichtern auch herrlich authentisch.
Claudio Gora, der laut Online Filmdatenbank in sage und schreibe 114 Filmen mitgewirkt hat und den man in Nebenrollen von Klassikern des italienischen Kinos wie Gefahr: Diabolik, Das Rätsel des silbernen Halbmonds oder Der Tollwütige zu sehen bekommt, hat eine kleine Rolle als Reverend ergattert. Ansonsten kommt der Film neben Joseph Cotten auch ganz ohne große Namen aus.

Glücklicherweise hat sich das für Qualität bekannte Label Koch Media diesem wunderbaren, wenngleich bis dato tendenziell übersehenen Italowestern angenommen und ihn (endlich) in einer Form veröffentlicht, die er verdient. Diese Blu Ray lohnt sich!




Foto:
Blu Ray von Koch Media



Sonntag, 27. März 2022

SPECIAL: WO SIGNORA WARDH VOR EINEM KILLER FLÜCHTETE

Anlässlich des Deliria Italiano Forumtreffen im Jahr 2015 in Wien, erhielten wir nicht nur die Gelegenheit, Der Killer von Wien (OT: Lo strano vizio della signora Wardh) im Kino zu sehen, sondern kamen auch auf die Idee, die Drehorte vor Ort genauer unter die Lupe zu nehmen.
Da wir damals nur ganz kurz in der Bundeshauptstadt waren, fanden wir nicht die Zeit, um ausreichend Fotos zu machen. Dies habe ich jedoch in den darauffolgenden Jahren bei diversen Wien-Aufenthalten nachholen können.

Die nachfolgenden Fotos sind in unterschiedlichen Formaten und mit verschiedenen Geräten aufgenommen worden und in einem Zeitraum von ungefähr sieben Jahren entstanden.
Dennoch kann man sich bei diesem Drehortvergleich einen kleinen Eindruck verschaffen.
Linksbündig zum Vergleich die Screenshots, zentral meine Fotos.


Viel Vergnügen!



Polizeikontrolle vor dem Stephansdom




Stephansdom von der Fußgängerzone aus fotografiert


Damals wohl eine noble Boutique















Heute ein (zumindest außen) nobler H&M


Am Graben war damals noch viel Verkehr


Heute nur noch viele Touristen


Die Hofburg mit Parkplatz davor


Die Hofburg mit Fiakern davor


Signora Wardh als Beifahrerin durch das äußere Burgtor


Blick aufs Burgtor vom Heldenplatz


1971


2015


Das Motorrad rast am Wiener Rathaus vorbei


Rathaus mit Votivkirche im Hintergrund


Die Gloriette im Garten Schönbrunn


Knapp 50 Jahre später


Schloss Schönbrunn





Schlosspark




Ein nebelverhangener Tag im menschenleeren Park


Zwar kein Nebel in Sicht, aber ich war ganz allein dort...


... obwohl ich wusste, was mit ihr passiert ist






Signora Wardhs Freundin vor dem Brunnen


Foto im März 2022 - endlich den Najadenbrunnen gefunden!




Das alte Schild war etwas stilvoller


Die Bepflanzung beim Palmenhaus...


...hat sich nicht verändert


Vorbei am Naturhistorischen Museum



Samstag, 5. März 2022

OCCHIALI NERI (2022)


DARK GLASSES - BLINDE ANGST
BLACK GLASSES (Alternativtitel)

Frankreich, Italien 2022
Regie: Dario Argento
DarstellerInnen: Ilenia Pastorelli, Xinyu Zhang, Asia Argento, Mario Pirello, Andrea Gherpelli, Maria Rosaria Russo, Gianluca Giugliarelli u.a.

Inhalt:
Ein sadistischer Prostituiertenmörder treibt sein Unwesen in Rom. Das Callgirl Diana wird von dem Täter nach einer Verfolgungsjagd in einen schweren Unfall mit dem Fahrzeug einer chinesisch stämmigen Familie verwickelt, bei dem sie ihr Augenlicht verliert. Kurz darauf stellt Diana fest, dass der Irre sie weiterhin verfolgt. Zur Seite steht ihr fortan der erst zehn Jahre alte Chin, der seine Eltern bei dem Unfall verloren hat…


Diana (Pastorelli) und Rita (Argento)



Chin (Xinyu Zhang)

Nachdem wir vergangenen Samstag in Italien einen wunderschönen sonnigen Tag am Comer See verbringen konnten, hatten wir auch noch das Glück, dass in der ersten Kinovorstellung des Abends um 18.20 Uhr außer uns nur drei andere Menschen saßen.
Da ich selbst dem Œuvre des Maestros ambivalent gegenüber stehe, also mich weder zu den uneingeschränkten VerehrerInnen noch zum Kreis der Hater zähle, war ich sehr gespannt, welchen Eindruck Dario Argentos aktuellste Regiearbeit bei mir wohl hinterlassen wird.
Die Antwort darauf ist: ich war direkt fasziniert, angetan und inspiriert von "Occhiali neri".


Foto vom Kinosaal


Argento ist sich selbst, seinen stilistischen Merkmalen und seinen wiederkehrenden Motiven treu geblieben, hat jedoch gleichzeitig sowohl den filmischen Look als auch die Handlungselemente auf eine innovative Weise modernisiert und an die Sehgewohnheiten des heutigen Publikums angepasst.
Das Drehbuch, das der mittlerweile 81 Jahre alte Regisseur gemeinsam mit dem Autoren Franco Ferrini (u.a. Phenomena und Dämonen 2) verfasst hat, ist im Vergleich zu seinen populären älteren Thrillern beinahe als geradlinig und schnörkellos zu bezeichnen.
Argento stellt unverkennbar Bezüge zu seinen früheren Filmen her, kreiert jedoch für "Occhiali neri" einen neuen Stil, der im zeitgenössischen Thrillerkino zu verorten ist.

Doch nicht nur dieses gewagte Kunststück ist ihm gelungen. Ebenfalls bemerkenswert ist auch die Verlagerung der Konzentration weg von kreativen set pieces in Form von möglichst spektakulären Todesarten näher an die Geschichte der Hauptfiguren. Der Überlebenskampf der blinden (Ex-) Prostituierten Diana und des traumatisierten zehn Jahre alten Chin stellen das Herzstück des Films dar. 
Die kunstfertige Inszenierung von fetischisiert dargestellten Morden, was früher durchaus für den Regisseur charakteristisch war, verliert an Bedeutung und rückt zugunsten der Entwicklung der Figuren und ihrer Verbindung in den Hintergrund.
Die nach dem folgenschweren Unfall entstandene Schicksalsgemeinschaft, bestehend aus einer erblindeten Frau und einem Waisenjungen, ist mit einer Zartheit und Einfühlsamkeit dargestellt, die im Argento-Universum durchaus als außergewöhnlich bezeichnet werden kann.
Für das Knüpfen des als Folge der Erlebnisse und des Überlebenskampfes entstehende Band der Zuneigung und gegenseitigen Unterstützung zwischen der Frau und dem Jungen lässt sich "Occhiali neri" viel Zeit.
Womöglich ist es auch die Betonung dieses Aspekts, der manche Bewunderer von Argentos frühen Werken enttäuscht und ratlos zurücklässt. 

Ilenia Pastorelli in der Rolle des vom Leben geprüften Callgirls und Xinyu Zhang, der Chin mimt, harmonieren auf der Leinwand gut miteinander. Rita, die als Reha-Lehrerin die Aufgabe hat, Diana beim Zurechtfinden in ihrer neuen Welt zu unterstützen und ihr den Alltag zu erleichtern, wird von Asia Argento gespielt. Zugleich fungierte Asia Argento auch als Produzentin für den Film ihres Vaters.

Durch die alptraumhafte Atmosphäre erinnert "Occhiali neri" an ein apokalyptisches Märchen. 
Diana und Chin irren von einem Ort zum Anderen, oft ist es gerade dunkel, denn ein beachtlicher Teil der Laufzeit spielt in der Nacht. Manchmal wissen sie selbst nicht, wo sie gerade sind und auch das Publikum wird im Dunkeln gelassen über ihren genauen Aufenthaltsort. Beispielhaft kommt dies in einer Szene zum Ausdruck, in der Diana und Chin auf der Flucht vor dem wahnsinnigen Frauenmörder und den Behörden irgendwo an einer Straße aus dem Bus aussteigen. Diana, die aufgrund ihrer nicht mehr vorhandenen Sehkraft auf Chins Beschreibung der Umgebung angewiesen ist, wird von dem Jungen darüber in Kenntnis gesetzt, dass er nicht weiß, wo sie sind.
Diana und Chin sind die letzten Fahrgäste und treten aus dem Bus auf die dunkle Straße. Nach wenigen Schritten erreichen sie auf der anderen Seite zwei Souvenir-Verkaufsstände, die wie aus dem Erdboden gestampft wirken. Als ob sie im Nirgendwo stehen würden. Diana kauft hier mit Unterstützung ihres jungen Freundes eine neue Sonnenbrille.
Diese seltsame Szene wirkt unwirklich und zusammenhangslos, wie Erinnerungsfetzen aus einem bösen Traum.
Der Eindruck eines vorübergehenden Realitätsverlusts und einer Abkopplung von Raum und Zeit wiederholt sich vom Anfang bis zum Ende des Films in diversen Szenen. Dadurch schafft Argento eine Atmosphäre einer sich allmählich auflösenden Wirklichkeit. Durch das Weglassen von Übergängen, das nicht Erklären von Zusammenhängen und phantasievollen Wendungen hebt sich "Occhiali neri" ganz deutlich von gewöhnlichen Slasherfilmen ab.


Ein Beispiel für die kunstvolle Beleuchtung

Auf die kunstvolle Beleuchtung der Sets wurde augenscheinlich großen Wert gelegt. Gerade in den vielen lichtarmen Szenen ist die Beleuchtung oft indirekt. Lediglich Umrisse und Schemen werden illuminiert, andere Details bleiben verborgen in der Finsternis.
Als Diana und Chin aus seiner Wohnung vor der Polizei weglaufen und durch den schmalen, nur aus dem Hintergrund spärlich beleuchteten Gang flüchten, geht plötzlich eine Tür auf und eine verwirrt wirkende alte Frau beginnt zu schreien. Diana, die nicht sieht, was gerade um sie passiert, gerät sichtlich in Panik, Chin stützt sie. Sie gelangen schließlich über eine Treppe in einen wiederum schmalen Gang auf den Weg ins Freie. 
Auch wenn an dieser Stelle nichts weiter Ungewöhnliches geschieht, rechnet man als ZuschauerIn mit zunehmender Laufzeit des Films insgeheim immer damit, dass im nächsten Moment etwas nicht rational Erklärbares passiert.

Diana und Chin befinden sich nicht nur auf der Flucht, sondern auch auf einer Odysee zwischen verschiedenen Orten, auf der sie wiederholt kurze Begegnungen mit anderen Menschen haben, die nicht in der Lage sind, ihnen zu helfen. Dadurch manifestiert sich nicht nur ihre eigene Schutzlosigkeit, sondern sie erleben auch ihre Mitmenschen als ohnmächtig. Es gibt keinen sicheren Raum und niemanden, der in der Lage ist, zu helfen.
Den Orten an sich kommt in "Occhiali neri" eine gewichtige Rolle zu. Sie changieren zwischen allseits bekannten touristischen Zielen Roms und Plätzen, die überall sein könnten (die Hotelzimmer, Dianas Wohnung). Vermeintliche Zufluchtsorte (Chins Wohnung, Ritas Haus am Waldrand) entpuppen sich als Falle und auf den ersten Blick feindselige, dunkle Gegenden (der Wald, der Fluss) bieten mehr Sicherheit als es auf den ersten Blick den Anschein machen mag.

Der übermächtige psychopathische Killer, der dem Kind und der Frau dicht auf den Fersen ist, verkörpert das personifizierte Böse. Er kennt keine Skrupel und keine Gnade, kein Zögern. Niemand ist vor ihm sicher.
Argento verzichtet auf die Frage nach seinen Motiven und eine (potentiell) rechtfertigende oder ansatzweise entschuldigende Erklärung für seinen Wahnsinn. Die in den Giallo Filmen der Siebziger Jahre häufig bemühten klischeehaften küchenpsychologischen Deutungen spielen eine untergeordnete Rolle. Der Mörder
 ergreift selten das Wort und wenn dann gibt er nicht viel Erhellendes von sich. Er wird reduziert auf seine schrecklichen Taten. Seine Herkunft, Vorgeschichte, Auslöser für die Mordserie und das Motiv sind für die Handlung nahezu bedeutungslos.



Die dunkle Brille ist für Diana vor u. nach dem Unfall wichtig


Dadurch bleibt mehr Raum für den nicht enden wollenden Horrortrip, auf dem sich Diana und Chin befinden. Es wird nur wenig gesprochen, auch Chin und Diana kommunizieren nur über das Nötigste. Oft fragt sie ihn schlicht, was er gerade sieht und er antwortet darauf. Gegen Ende, als sie die Wahl treffen müssen zwischen der Flucht in die Richtung einer beleuchteten Straße oder in den pechschwarzen Wald entscheiden sie sich für die zweite Option.
Während ihre Reise die beiden in immer dunklere Gefielde führt, wird auch ihre Situation immer aussichtsloser. Der Wald und der nahe gelegene Fluss halten unliebsame Überraschungen bereit.
Wie bei Dario Argentos Filmen so oft im übertragenen als auch im ganz direkten Sinn (vgl. Phenomena oder "Opera") darf man auch hier im Moment größter Not auf unerwartete Hilfe aus dem Tierreich zählen.

In "Occhiali neri" geht es um Einsamkeit, Isolation und darum, angesichts aller Gefahren nicht den Mut und die Hoffnung zu verlieren. Diana steht aufgrund ihres Berufs eher am Rand der Gesellschaft und Chin gehört zu einer nicht sonderlich beliebten oder positiv konnotierten Bevölkerungsgruppe in Italien. Er hat aufgrund seines Migrationshintergrunds keine Familie im Land und auch sonst niemanden, an den er sich in seiner Not wenden kann. Chin ist völlig entwurzelt und auch Diana hat keinen (sicheren) Boden mehr unter ihren Füßen.

Die Sonnenfinsternis, die Diana vor ihrem Unfall beobachtet, wird für die Frau zum Sinnbild eines bevorstehenden radikalen Einschnitts in ihrer Biographie. Ihr Leben verdunkelt sich in vielfältiger Weise, nicht nur durch den Verlust ihres Augenlichts. Das bemerkenswerte Naturschauspiel ist für sie im Nachhinein betrachtet ein böses Omen.

CineastInnen, die mit Argentos Arbeit vertraut sind, dürfen sich über zahlreiche Referenzen und Querverbindungen zu seinen anderen Filmen freuen. Argento selbst zollt seinem Regie-Kollegen Alexandre Aja Tribut, indem er nicht nur eine Szene aus "Maniac" (2012) in einem TV Gerät zeigt, sondern auch die Kameraperspektive bzw. Einstellung des Mordes kurz darauf eins zu eins wiederholt.
Der Soundtrack des französischen Musikers Arnaud Ribotini erinnert mit seinen treibenden, kühlen Synthesizer Klängen sogar ein wenig an den düster-elektronischen Klangteppich, den Robin Coudert für Ajas Maniac Remake (2012) komponierte.
Auf künstlich aussehende computergenerierte Effekte hat Dario Argento dieses Mal verzichtet und sich stattdessen einen alten Bekannten aus Cinecittà an Bord geholt. Nämlich niemand Geringeren als den Special Effekt-Makeup-Designer mit dem klingenden Namen Sergio Stivaletti (PhenomenaThe Sect). Sein Team hat für "Occhiali neri" hervorragende Arbeit geleistet.

Alles in Allem wird sich das düstere, unheilvolle Universum von "Occhiali neri" bei manchen trotz und bei anderen wegen der unverkennbaren Handschrift Dario Argentos nicht jedem auf den ersten Blick erschließen. Je nach Vorkenntnissen und Perspektive könnten sowohl Fans als auch ein unbedarftes Publikum ihre liebe Mühe haben, einen Zugang zu der Atmosphäre und den Figuren zu finden.
Eine gewisse Aufgeschlossenheit in alle Richtungen hilft (hier) allemal.
Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf eine Zweitsichtung im Heimkino.



Donnerstag, 17. Februar 2022

LA POLIZIA INCRIMINA LA LEGGE ASSOLVE (1973)








TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT
STRASSE INS JENSEITS (Alternativtitel)

Italien, Spanien 1973
Regie: Enzo G. Castellari
DarstellerInnen: Franco Nero, James Whitmore, Delia Boccardo, Fernando Rey, Silvano Tranquilli, Ely Galleani, Victor Israel, Nello Pazzafini, Bruno Corazzari, Massimo Vanni u.a.

Inhalt:
Kommissar Belli macht in Genua Jagd auf Drogenhändler und gerät dabei auf die Spuren einer mafiösen Vereinigung mit Verbindungen bis in die höchsten Kreise von Industriellen und Politikern. Dadurch gerät nicht nur sein Weltbild ins Wanken, sondern auch sein Umfeld in Gefahr…


Belli (Nero) gerät schnell in Rage...



...Mirella (Boccardo) nimmt es mit Humor

Kommissar Belli (Franco Nero) ist wütend. Wegen seinem schier endlosen und leider aussichtlos scheinenden Kampf gegen die Drogenmafia in Genua. Er ist wütend auf die mafiösen Verbindungen der reichen Industriellen, er ist erbost über seinen Chef, der nicht in die Gänge kommt beim Aufdecken der einflussreichen Hintermänner des Drogenrings. Belli ist sauer auf seinen Informanten, den Mafiapaten Cafiero (Fernando Rey), weil sich dieser nach Bellis Geschmack zu sehr aus dem Geschäft zurückzieht und das Feld anderen, nämlich den Libanesen, überlässt.

Bellis Grundstimmung überträgt sich auch auf sein Privatleben. Er gerät in Rage, wenn er sich beim Rasieren schneidet und gibt seiner Freundin Mirella (Delia Boccardo) dafür die Schuld. Mirella wiederum scheint diese Ausbrüche ihres Freundes bereits zu kennen und kontert seine lächerlichen Vorwürfe gelassen mit dem Rat, dass er doch auch mal seine eigenen Rasierklingen in ihrem Bad deponieren kann.
Unser permanent gereizter Kommissar ist neben
 den absolut spektakulär inszenierten spannenden Verfolgungsjagden die treibende Kraft und seine Aktionen ein essentielles spannungsförderndes Handlungselement in Enzo Castellaris Polizeifilm.


Belli macht seinem Vorgesetzten (Whitmore) Vorwürfe


Als wandelbarer und hochprofessioneller Darsteller gelingt Franco Nero der Drahtseilakt zwischen dem raubeinigen Polizisten, der einer sachgemäßen Befragung gerne auch mal ein paar Faustschläge vorausschickt und einem trotz seiner kaum zügelbaren Impulsivität doch ernst zu nehmenden Charakter.
Gerade Franco Neros hier verkörperte Rolle des rabaukenhaften Kommissars diente wenige Jahre später als Blaupause für den Schauspieler Maurizio Merli (vgl. Verdammte, heilige Stadt oder Convoy Busters), der sich als jähzorniger Gesetzeshüter sowohl optisch als auch ermittlungstechnisch in vergleichbar brutaler Manier durch die Reihen der Gesetzesbrecher boxte. Jedoch mit einer solchen Inbrunst der Überzeugung und fehlendem Gespür für sanftere Zwischentöne, dass Merlis Radikalität immer etwas ins Gegenteilige des beabsichtigten Effekts abdriftet. Sprich: Merli konnte und kann man nie ganz Ernst nehmen, Franco Nero in dieser ähnlich gelagerten Rolle hingegen sehr wohl.


Verfolgungsjagden durch Genua...



... und Actionszenen kommen nicht zu kurz


Einer der üblichen Verdächtigen (Corazzari) 


Regisseur Enzo Castellari (Ein Bürger setzt sich zur Wehr, "Keoma", Racket) hat sich vor allem mit seinen actiongeladenen Filmen einen Namen gemacht. Die von ihm gerne verwendeten visuellen Stilmittel wie Zeitlupenszenen, für die damalige Zeit schnellen Schnitte und Rückblenden hat er in "Tote Zeugen…" voll ausgereizt.

Die besondere Erzählstruktur hebt diesen Polizeifilm auch aus der Masse hervor. Durch den geschickten Einsatz von Rückblenden und Wiederholungen (zum Beispiel prägnante Sätze, die im Kopf Bellis widerhallen) lässt die Handlung abseits der klassischen Actionszenen innovativer und interessanter wirken als bei vergleichbaren Filmen mit einer konventionelleren Montage bzw. Abfolge von Szenen.
Durch die prägnanten Einblicke in Bellis Privatleben wie seiner Beziehung zu seiner Tochter Anni und seiner Freundin Mirella, sieht man andere Facetten der Persönlichkeit des Polizisten und bekommt eine Ahnung davon, woher seine Verbissenheit bei der Verbrechensbekämpfung rührt.
Sein Kampf gegen Windmühlen wirbelt nicht nur viel Staub auf, sondern führt auch zu einem unvermeidlichen und leider tragischen Blutvergießen auf beiden Seiten.


Die Filmmusik, die von den talentierten Brüdern Guido und Maurizio De Angelis (auch bekannt unter deren Pseudonym Oliver Onions) komponiert wurde, ist mit seinen sanften melancholischen Tönen und der gleichzeitig einprägsamen Melodie zu einem zeitlosen Soundtrack Klassiker geworden.
"Tote Zeugen singen nicht", dem bereits in den Siebzigern ein beachtlicher Erfolg an den Kinokassen beschieden war und der laut Pressespiegel allseits wohlwollend aufgenommen wurde, hat bis zum heutigen Tag einen hohen Stellenwert in der Fangemeinde des italienischen Polizeifilms.
Als ich "Tote Zeugen..." im Rahmen des Italocinema Festivals Norimberga violenta 2017 zum ersten Mal im Kino gesehen habe, musste ich mit Bedauern feststellen, dass es leider keine adäquate Möglichkeit gibt, den Film zuhause nochmal anzuschauen.
Mit der Veröffentlichung des Labels filmArt ist er nun endlich in einer qualitativ hochwertigen Fassung für den Heimkinomarkt verfügbar.




Foto: Blu Ray von filmArt