Freitag, 31. Dezember 2021

DÈMONI (1985)








DÄMONEN 2

Italien 1985
Regie: Lamberto Bava
DarstellerInnen: Urbano Barberini, Natasha Hovey, Paola Cozzo, Karl Zinny, Fiore Argento, Nicoletta Elmi, Alex Serra, Michele Soavi, Bettina Ciampolini, Sally Day, Bobby Rhodes, Giovanni Frezza u.a.

Inhalt:
Studentin Cheryl wird in einer Berliner U-Bahn Station von einem mysteriösen Fremden, der Flyer verteilt, zu einer Gratis Kinovorstellung eingeladen. Sie nimmt ihre Freundin Liz mit. Als eine Frau aus dem Publikum sich in einen Dämon verwandelt und Cheryl und die anderen BesucherInnen feststellen, dass sie im Kino eingeschlossen sind, beginnt der verzweifelte Kampf um Leben oder Tod…


Die Platzanweiserin (Nicoletta Elmi)


Frauen sind generell ängstliche zarte Wesen


Unsere Hauptdarstellerin Cheryl (Natasha Hovey) wirkt schon in den ersten Minuten des Films wie eine eher furchtsame Person, wenn sie in der U-Bahn ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen unsicher über die mitfahrenden Punks streifen lässt. Sie strahlt etwas Kindliches und Naives aus – eine klassische Klischee-Frauenrolle, wie sie öfters in Produktionen dieser Zeit, die mit dem Namen Argento irgendwie in Verbindung stehen, zu identifizieren sind.

Die Frauen in "Dämonen 2" sind genau genommen durch die Bank entweder ziemlich (durchtriebene) Luder, Flittchen oder eben arme ängstliche Mädchen, die von den Männern mit besonders maskuliner Ausstrahlung und strammen Körperbau (Urbano Barberini oder Bobby Rhodes) gerettet werden müssen und selbstverständlich auch wollen.
Auf der anderen Seite könnte man auch sagen, dass der Film mit diesen Frauenbildern dem (Kino-)Publikum der Achtziger Jahre einen Spiegel vor die Augen hält, in den man heute vielleicht eher nicht mehr gerne länger hinein blickt oder in dem man meint, sich selbst nicht zu reflektieren...

Das handlungstechnisch omnipräsente Spiel mit den verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung, also was sich zwischen der Leinwand und dem Publikum im Film und zwischen uns als ZuschauerIn abspielt, ist mit einem verschmitzt-sympathischen Augenzwinkern versehen. Die Handlung ist scheinbar nebensächlich. Dem Kinopublikum in "Dämonen 2" geht es vornehmlich darum, sich zu gruseln und genau das ist es, was wir uns selbst vorrangig von diesem Film erwarten dürfen.
Die Effekte sind bunt und gespickt mit Referenzen an das phantastische Kino der Achtziger Jahre. Die Verwandlungsszenen und Effekte wecken Reminiszenzen an "Tanz der Teufel" (nicht nur beim Namen der Protagonistin "Cheryl"), American Werewolf (nicht nur die körperliche Transformation sondern auch die ähnlich inszenierte Sequenz mit den Punks in der U-Bahn), "Nosferatu – Phantom der Nacht" (von dem auch ein Filmplakat im Hintergrund zu sehen ist). Bei der Gruppe von Punks, die als Unbeteiligte verspätet ins Metropol gelangen und auch der Auswahl von Musik entdeckt man (unbeabsichtigte) Parallelen zu einem unter Horrorfans bis heute noch populären Film wie Return of the living dead, der ebenfalls im Jahr 1985 entstand.


Michele Soavi verteilt Flyer

Mit dem Schauspieler und Regisseur Michele Soavi wurde jemand gecastet, der mit seinen Arbeiten nicht nur selbst wunderbare Beiträge zum Genrekino abgeliefert hat, sondern sich auch durch seine Zusammenarbeit mit Dario Argento auszeichnete und als Nebendarsteller in Lucio Fulcis Ein Zombie hing am Glockenseil einen denkwürdigen Auftritt hatte.

Nicoletta Elmi in der Rolle einer geheimnisvoll wirkenden Platzanweiserin stellt sogar eine Querverbindung zwischen dem Namen Bava und Argento her. Immerhin spielte sie als einstige Kinderdarstellerin mit mysteriöser Aura und ernstem Blick sowohl in mehreren Produktionen Mario Bavas als auch in "Profondo Rosso" von Dario Argento eine wichtige Rolle.

Argento selbst soll laut überlieferten Aussagen des Regisseurs Lamberto Bava nicht nur als Produzent fungiert, sondern großen inhaltlichen Einfluss auf das Drehbuch und die Gestaltung des Films genommen haben.


Das Kino

Kino sowohl im übertragenen als auch im ganz substanziellen, wörtlichen Sinn, ist das zentrale Thema bei "Dämonen 2".
Der Filmpalast namens Metropol, in dem sich die Dämonen und das anfangs noch ahnungslose Publikum befinden, wirkt auf den wenigen Außenaufnahmen selbst wie eine mächtige, dunkle Entität. Ein architektonisch gewaltiger Klotz, der in den dunkelrot glühenden Horizont ragt. Wenn das mal kein (schlechtes) Omen ist.


Grüner Schleim, rot-orange Augen. Hauptsache bunt

Auf jeden Fall sehe ich mir diesen Film immer wieder gerne an, weil er laut und bunt, bisweilen skurril und schlichtweg ein charmantes Produkt seiner Zeit ist. Die quirlige Lebendigkeit der actionreichen Handlung und die Exzentrik der einzelnen Charaktere sind ein Zeugnis von Kreativität, Ideenreichtum und Experimentierfreude. Diese Zuschreibungen können auch als wunderbar passende Allegorie zum Drehort Berlin gelesen werden.
Lamberto Bava war sich auch nicht zu schade für skurrile Wendungen und schelmischen Humor.


Zuerst blind, jetzt auch noch ohne Augäpfel

Als Beispiel kann der blinde Kinobesucher, der von seiner attraktiven Frau während des Films im Nebenraum betrogen wird benannt werden. Oder der Zuhältertyp und seine Begleiterinnen, die sich in der ersten Reihe wie renitente Jugendliche benehmen und kichern, als sie vom Kinopersonal aufgefordert werden müssen, das Rauchen einzustellen. Oder der Mini-Dämon, der ähnlich wie das Alien in Ridley Scotts gleichnachmigen Film aus einem menschlichen Körper herausbricht. Bisweilen wirkt "Dämonen 2" sogar wie ein schrilles Musikvideo.

Überraschenderweise ändert sich die zwar gorige, aber doch eher spaßige Atmosphäre radikal nach dem Durchbruch des Hubschraubers durch die Kinodecke. Cheryl und George können dadurch zwar der klaustrophobischen Enge des Gebäudes entkommen, finden sich jedoch in einem noch schlimmeren Alptraum wieder, denn die Welt ist während ihrem Überlebenskampf im "Metropol" bereits komplett aus den Fugen geraten. So steuern sie unerwartet auf ein apokalyptisches Ende zu, das ganz in der Tradition von Altmeister Lucio Fulci steht und an dessen düsterste Horrorfilme wie Woodoo-Schreckensinsel der Zombies, Ein Zombie hing am Glockenseil oder Über dem Jenseits erinnert.

Wie ich diversen Kommentaren in den Untiefen des Internets entnehme, kommt "Dämonen 2" bei allen, die ihren eigenen Begriff von Logik über den Wert von Unterhaltung stellen, nicht wirklich gut weg.
Ich denke, dies kann man - je nach persönlicher Präferenz - getrost als berechtigten Einwand, Warnung, vielleicht aber auch als paradoxe Form von Empfehlung verstehen.




Foto: DVDs vom Label Dragon und Raptor




Foto: XT Hartbox und XT Mediabook




Foto: Arrow 4K UHD Veröffentlichung




Foto: Der Soundtrack auf blauem Vinyl



Sonntag, 28. November 2021

TITANE (2021)


TITANE

Belgien, Frankreich 2021
Regie: Julia Ducournau
DarstellerInnen: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Mara Cisse, Bertrand Bonello, Myriem Akkhediou, Dominique Frot u.a.

Inhalt:
Tänzerin Alexia kann das Morden nicht lassen und muss schließlich für eine Weile untertauchen, da ihr die Polizei dicht auf den Fersen ist. Nach einer radikalen Typveränderung wird sie von Feuerwehrmann Vincent für seinen vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Adrien gehalten. Für Alexia beginnt in Vincents Heim ein neues Leben. Doch auch das Leben, das in ihr wächst, macht sich zunehmend bemerkbar und ihr Schwindel droht aufzufliegen…


Bemitleidenswert - Alexia nach dem Unfall


Alexia sucht als Erwachsene die Nähe zu Autos


Etwas über zwei Wochen habe ich nach der Kinovorstellung von "Titane" hin- und herüberlegt, ob ich etwas zu diesem Film schreiben kann und soll. Einerseits wollte ich ein wenig zeitlichen und auch emotionalen Abstand gewinnen, um dadurch mehr Klarheit über das Gesehene zu erhalten. Andererseits pflege ich meine Texte für gewöhnlich in einer Form zu verfassen, in der ich Spoiler bzw. ein detailliertes Eingehen auf gewisse Inhalte tendenziell vermeide. Jedoch erscheint es mir unmöglich, unter Einhaltung dieser selbst auferlegten Vorgaben auch nur annähernd etwas Sinnvolles über den Film zu schreiben. Seit langer Zeit hat mich kein (neuer) Film im Kino mehr so in seinen Bann gezogen und anhaltend beschäftigt wie "Titane".
Ich schätze mich glücklich, ihn im menschenleeren Kino auf einer riesigen Leinwand gesehen zu haben. Dies hat natürlich ungemein zur Intensität des Seh-Erlebnisses beigetragen.
Der Film ist auf vielen Ebenen inspirierend und ich werde ihn bestimmt noch öfter ansehen.
Allen, die "Titane" noch nicht gesehen haben und die ihn sich möglichst unwissend und unbedarft (so wie ich im Kino) ansehen wollen, sei empfohlen, mit dem Lesen jeglicher Rezensionen noch zu warten.

Doch nun zum Film:

In der Anfangsszene sehen wir die kindliche Alexia kurz vor dem verhängnisvollen schweren Autounfall, in Folge dessen ihr eine Titanplatte in den Kopf implantiert wird.
Doch wir werden nicht nur ZeugInnen des Unfalls, sondern auch direkt eingeweiht in die emotional kalten familiären Strukturen, in denen das Mädchen aufwächst.
Der Vater sitzt am Steuer des Wagens und vermeidet, um genau zu sein verweigert, jegliche Kommunikation mit seiner Tochter. Er ignoriert das Kind sichtlich genervt und schaltet die Musik lauter, um die Stimme seiner Tochter zu übertönen. Alexia gibt sich redlich Mühe, mit ihrem Vater in Kontakt zu kommen und bettelt mit ihrem trotzigen kindlichen Verhalten regelrecht um Aufmerksamkeit. Doch das Herz des Vaters scheint sich nicht erweichen zu lassen. Als er sich endlich wutentbrannt mit dem Körper Richtung Rücksitz dreht, geschieht die Katastrophe. Nach dem Unfall, als das Mädchen mit Schrauben im Kopf im Krankenhaus gezeigt wird und einen herzerweichenden Anblick bietet, zeigen die Eltern wiederum keine adäquate Reaktion. Sie werden von den Ärzten gebeten, auf neurologische Auffälligkeiten zu achten und insgeheim ertappe ich mich bei dem zynischen Gedanken, dass dies wohl das Einzige ist, was man realistischerweise von Alexias Erzeugern fordern kann.
Auch in dieser Sequenz zeigen sich Mutter und Vater eher distanziert und emotionslos. Niemand nimmt das Kind in den Arm. Es gibt keine liebevolle Zuwendung, keinen Trost. Diesen sucht sich das Mädchen selbst, indem es sich an das Familienauto klammert und es liebkost, worauf wiederum keine elterliche Reaktion folgt. In dieser Szene erhält man eine erste Idee der fatalen Verbindung zwischen positiver Emotion und Fahrzeug, die sich in destruktiver Weise auf Alexias Leben als Erwachsene auswirken wird.
Der Eindruck einer gestörten Bindung und Interaktion zwischen Alexia und ihrer Familie, insbesondere dem Vater, wird auch in späteren Szenen durch Bilder, Blicke und nicht gesprochene Dialoge vermittelt und gefestigt.


Alexia auf der Carshow


Das andere große Dilemma ihres jungen Lebens ist, dass Alexia scheinbar eine sexuelle Präferenz für Metall, insbesondere Autos, entwickelt hat. Bei einem orgiastisch-zügellosen Abenteuer mit einem Auto wird sie von diesem schwanger.
Ihre Schwangerschaft bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Alexias Unvermögen, mit Menschen in Beziehung zu treten, gekoppelt mit ihrem Drang, Andere von sich fern zu halten indem sie tötet, wird ihr zunehmend zum Verhängnis. Die Polizei sucht bereits mittels Phantombild nach der Serienmörderin.
Doch durch die Begegnung mit dem Feuerwehrmann Vincent (Vincent Lindon), der aufgrund des Verlusts seines Sohns Adrien selbst ebenfalls emotional verkümmert ist und nicht mehr in besonderem Maß an seinem Leben zu hängen scheint, ändert sich für die junge Frau alles.
Was sich zwischen den beiden Hauptcharakteren im weiteren Verlauf abspielt, lässt sich nur schwer in Worte fassen, da es dem, was gezeigt wird, nur bedingt gerecht wird.
Alexia macht zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, bedingungslos und kompromisslos geliebt zu werden. Auch wenn die jungen Männer, deren Kommandant Vincent ist, den vermeintlichen Sohn Adrien seltsam finden und manche auch misstrauisch werden, bleibt Vincent zu hundert Prozent loyal.
Er verbietet seinen Männern, über Adrien zu reden. Er will nicht hören, was sie ihm zu sagen haben, da es für ihn schon längst keine Rolle mehr spielt.
"Du bist mein Sohn. Egal, wer du bist." sagt er in einem Moment der Erkenntnis und schonungsloser Offenheit irgendwann zu der Person, mit der er sein Leben teilt.

"Titane" kann auf mehreren Ebenen beleuchtet werden und besitzt selbstverständlich enormes Potential, sein Publikum zu spalten, da er sich weder so einfach kategorisieren lässt noch einen erwartbaren Verlauf nimmt.
Sehr markant erscheinen mir die beiden unterschiedlichen Teile des Films. Zu Beginn ist eine Atmosphäre von (emotionaler) Kälte, Einsamkeit, Zerstörung und Feindseligkeit vorherrschend. Das Tempo der Erzählung nimmt rasch Fahrt auf, die Anzahl der Morde schnellt rasant in die Höhe.
Gerade als man denkt, dass bereits jegliches Steigerungspotential ausgeschöpft sein muss, reduziert Ducournau radikal das Tempo und schwenkt um zu einem quälend langsam erzählten Part, in dem es um die Auflösung der emotionalen Verhärtung der Figuren geht. Schicht um Schicht wird das Menschliche und Verletzliche der Hauptfiguren an die Oberfläche befördert.
Parallel dazu geschieht auch die Transformation von Alexias Körper durch die Schwangerschaft. Es macht den Anschein, dass sie ihre physische Veränderung selbst deutlicher erkennt und ablehnt als das, was sich zeitgleich dazu in ihre Psyche abspielt.


Mord und Feuer als Form der Katharsis


Während vor der Begegnung mit Vincent alles eher rastlos, fahrig und beschleunigt wirkt, umrahmen später auch wunderbar leichte, von der Geschwindigkeit der Außenwelt entkoppelt wirkende Tanz- und Zeitlupenszenen die seelische Metamorphose der beiden Hauptfiguren.
In einer besonders bewegenden Szene in der Küche, in der Alexia/Adrien vor Vincent flüchten will, lädt er seinen Sohn unvermittelt zum Tanz ein. Er öffnet sich auch körperlich, indem er die Hände ausbreitet und von seinem Körper weghält und bewegt sich mit einer unwiderstehlichen, ansteckend wirkenden Lebendigkeit und Leichtigkeit zum Song "She’s not there".
Alexia lässt sich schließlich von ihm verführen, mitzumachen. Das Zitat "Musik sagt mehr als tausend Worte" ist eben doch mehr als nur eine hohle Phrase.
Der abwechslungsreiche und wunderbare Soundtrack von "Titane" nimmt eine bedeutende, mitunter beinahe dominante Rolle ein. Manche Szenen scheinen regelrecht eine symbiotische Verschmelzung zwischen Visuellem und Musikalischem einzugehen. Ducournau hat auch hier nichts dem Zufall überlassen.
Ebenso wenig wie beim Casting der HauptdarstellerIn. Was Agathe Rousselle (Alexia) und Vincent Lindon (Vincent) mit einer eindringlichen Präsenz schauspielerisch leisten, kann nicht genug Anerkennung erhalten.

"Titane" ist ein Film, auf den man sich nach Möglichkeit vorbehaltslos einlassen können sollte. Gerade auch was das Thema der ungewollten Schwangerschaft und der körperlich sichtbaren Auswirkungen betrifft, da sich der Film an dieser Stelle in Richtung Bodyhorror bzw. ins Phantastische bewegt.
Es hilft ungemein, wenn man sich schlicht entführen lässt in die abgründige Welt Alexias, in der es am Ende doch um vertraute menschliche Emotionen geht.
Sowohl visuell als auch erzählerisch bewegt sich "Titane" mit spielerischer Mühelosigkeit über alle Genrekonventionen und -grenzen hinweg. Julia Ducournau, die nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch verfasste, bewegt sich leichtfüßig tänzelnd zwischen Body Horror à la David oder Brandon Cronenberg, Schockern und existenziellem Drama.
Wie Gaspar Noe zeigt sie schonungslose Gewaltexzesse, die den Anfang einer radikalen Veränderung markieren und in eine unabwendbare und umkehrbare innerliche Transformation der Charaktere münden.
Diese Wandlung vollziehen Alexia und Vincent gemeinsam, indem sie wie in einem ständig währenden Kampf zwischen Zuwendung und Ablehnung miteinander ringen.
Keinesfalls wird man der Regisseurin mit den Vergleichen zu ihren Berufskollegen gerecht, denn "Titane" ist viel mehr als ein Konglomerat aus Hommage und Zitaten, der Film an sich stellt vielmehr etwas absolut Innovatives dar. 

Im weiteren Sinn beschäftigt sich Julia Ducournau auch mit der Verwischung und Auflösung von Geschlechterkategorien bzw. den damit konnotierten Klischees und Rollenzuschreibungen.
Dies geschieht jedoch nicht, wie es in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise üblich zu sein scheint, elitär, belehrend oder aggressiv-plakativ, sondern auf eine subtile Art, die (nicht nur) bei den Feuerwehrmännern Unbehagen auslöst.




Während die Feuerwehrmänner mit ihren athletischen Muskelpanzern sich unter ihresgleichen wähnen und gemäß den ungeschriebenen Regeln heterosexueller Männerbünde agieren, wird ihr Kreis ohne dass sie es ahnen, von einer Frau infiltriert.
Dies stiftet zumindest bei einem der Männer besondere Verwirrung, denn er registriert eine ihm unerklärliche und gemäß seinen Werten moralisch tabuisierte Anziehung zwischen ihm und "Adrien". Er reagiert darauf, indem er sich dem Sohn seines Kommandanten gegenüber zunehmend feindselig verhält und Adrien, dessen wahre Identität er in Frage stellt, in einem Akt der Verzweiflung sogar auffliegen lassen möchte.
Die sich steigernde Konfusion der Mannschaft gipfelt schließlich in der Szene, in der Adrien/Alexia bei einem Fest unvermittelt einen erotischen Tanz auf dem Feuerwehrauto aufführt.
Sie wenden sich verstört von ihr ab, denn innerhalb ihres Mikrokosmos, ihrem sozialen Gefüge, finden sie keine angemessene Reaktion auf diese verstörende zur Schau gestellte Körperlichkeit.
Alexia hingegen sucht den Trost wie in ihrer Kindheit wieder beim kalten Metall, indem sie sich in das Feuerwehrauto zurückzieht. Doch auch nach diesem Rückschlag darf sie erfahren, dass Vincent sich trotz allem nicht von ihr abwendet, wodurch es für beide gegen Ende sogar möglich wird, über ihre tiefen Gefühle füreinander zu sprechen.

Eine ganz besonders intensive Szene, in der Alexia (bereits in der Rolle des Adrien) mitten in der Nacht im Bus sitzt, versinnbildlicht ihre eigene Unentschiedenheit, was ihre Identität betrifft. Alexia wird unmittelbar Zeugin einer Situation, in der eine attraktive Frau von einer Gruppe junger Männer nicht nur verbal belästigt, sondern offen bedroht wird. Die Gespräche und Kommentare in Richtung dieser fremden Frau werden zunehmend aggressiv und beherrscht von Dominanz und Gewaltphantasien.
Verschüchtert sucht diese immer wieder den Blickkontakt zu der in der Nähe sitzenden Alexia (in Gestalt von Adrien) und man spürt förmlich die Angst und Verzweiflung, die von ihr Besitz ergreift.
Auf dem Höhepunkt der gefühlten Bedrohung sehen wir einen Schnitt und im Bild ist schließlich nur noch Alexia zu sehen, die allein an der spärlich beleuchteten Bushaltestelle steht.
Sie konnte und kann offenbar keine Position beziehen. Sie war und ist selbst Täterin und Opfer, sie vereint in sich weibliche und männliche Anteile. Alexia ist jedenfalls schlichtweg nicht in der Lage, adäquat zu reagieren oder der Frau gar zu helfen.
Diese Kompetenz, nämlich anderen Menschen vorbehaltlos Hilfe zu leisten, muss sie schließlich noch lernen, indem sie einerseits Vincent sowohl vor einer Überdosis Steroide als auch vor emotionaler Verzweiflung und Suizidalität rettet, andererseits die berührende Erfahrung macht, im Vertrauen auf die Unterstützung von Vincent einer älteren Frau bei einem Feuerwehreinsatz das Leben zu retten.

Der Film bietet optisch, gesellschaftlich und emotional diverse Deutungsmöglichkeiten an, die es je nach persönlich favorisiertem Fokus, zu entdecken gilt. Wer bereit ist, nicht auf klar abgegrenzte Genre-Schemata zu beharren, wer gerne Metaphern entschlüsselt oder sich einfach entführen lässt in die Welt von zwei Außenseitern, die tief im inneren verlorene Seelen sind, dem kann "Titane" als Offenbarung erscheinen. Ducournau lotet Grenzen in alle Richtungen aus.
Der Film umreißt bedeutsame Themen wie die Heilung von Traumata, Familie, Halt und die Versöhnung mit der eigenen Verletzlichkeit.
Meine persönliche Prämisse ist, dass es im Kern jedoch um eine tiefe, vorbehaltslose und vollkommen loyale Verbindung zwischen zwei völlig unterschiedlichen Menschen geht – jenseits von gesellschaftlichen Konventionen und Rollenzuschreibungen.




Foto: Steelbook vom Label Koch Media



Sonntag, 31. Oktober 2021

SPECIAL: WO DIE TRAUBEN DES TODES WACHSEN

Jean Rollins "Les raisins de la mort" gehört, seitdem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, zu meinen Lieblingsfilmen und ist im Laufe der Jahre, wie guter Wein, auf meinem cineastischen Gaumen immer mehr gereift. Bei jeder Sichtung fand ich ihn noch hypnotischer und aufgrund der mystisch anmutenden Landschaft, der stimmungsvollen Musik und dem unkonventionellen surreal anmutenden erzählerischen Konstrukt auch irgendwie poetisch.

Vor ungefähr vier Wochen haben wir auf unserem dreiwöchigen Frankreich-Trip einen Zwischenstopp in den Cevennen eingelegt und einige der markanten Drehorte des Films besichtigt. Eine beträchtliche Anzahl der Gebäude ist bereits verfallen oder nicht mehr erkennbar - sie waren zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits sichtbar einsturzgefährdet, jedoch findet man mit ein wenig Fanatismus und einer Spur Verrücktheit doch noch Wiedererkennbares... Daran wollen wir natürlich alle, die sich dafür interessieren, gerne teilhaben lassen.
Kein Weg war uns zu weit, keine Straße zu gefährlich und die Einheimischen in einer 200 Seelen Gemeinde, in der wir einige Tage verbracht haben, waren erstaunt, dass in ihrer Nachbarschaft einst ein Film gedreht worden sein soll.
Der sympathische Barkeeper und andere, die wir in einem gemütlichen Pub kennen gelernt haben, kannten zwar den Film nicht, aber waren sich nach einem Blick auf einige mitgebrachte Screenshots sicher, dass "Les raisins de la mort" in der Nähe gedreht wurde. Unser Handy wurde in der Bar herumgereicht und alle rätselten und halfen munter mit, wo genau das Filmteam sich anno 1977 wohl genau aufgehalten hatte.
Konkrete Hinweise konnten sie uns zwar nur in einem Fall geben, aber wir waren glücklicherweise gut vorbereitet und ließen uns durch nichts und niemanden beirren. Zumindest waren wir uns alle nicht ganz sicher wegen einem (vermeintlichen) Drehort, an dem mittlerweile nicht nur viele Gebäude eingestürzt sind, sondern auch abgerissen wurden. Manche sind sogar von einer Gruppe von Neo-Hippies neu aufgebaut bzw. renoviert worden.
Dadurch hat sich das Gesamtbild stark verändert, um nicht zu sagen, es wurde beinahe unkenntlich gemacht.
In besagtem Pub, das wir zwei Mal besuchten, herrschte jedenfalls Einigkeit über die scherzhafte Aussage "The dirty hippies destroyed it."
Bei der Kirche, die von einer Mauer mit drei auffälligen Kreuzen über dem hölzernen Eingangstor umgeben ist, kam uns sogar der Zufall zur Hilfe.
Eines schönen Morgens, als der Nebel noch tief im Tal hing und wir zum wiederholten Mal auf dem Weg zu einer Sehenswürdigkeit an diesem Friedhof vorbeifuhren, lenkte ich das Auto kurzerhand von der Hauptstraße hinunter auf den Weg, der quer über ein Feld zu dem Gotteshaus führte. Durch die neblige Stimmung gefiel mir der Ort an diesem Tag besser als zuvor und ich wollte ein paar atmosphärische Fotos machen. Wie haben wir gestaunt, als wir feststellten, dass es sich dabei um einen der Drehorte handelt!

Auch die Aussicht auf die unter uns liegende Schlucht und die Kalksteinfelsen in einem kleinen Nachbarort, in dem wir eigentlich nur wegen unserer leeren Mägen Halt machten, kam fast exakt in derselben Einstellung im Film vor. Dies haben wir allerdings tatsächlich und erstaunlicherweise erst zuhause entdeckt.

Was uns beim heutigen Ansehen von Jean Rollins herausragendem Horrorfilm ganz deutlich vor Augen gehalten wurde, ist, wie viel Wert er tatsächlich auf die Auswahl der Drehorte und die Bildkompositionen gelegt hat.
Er hat Schauplätze, die nicht nur in teils unwegsamen Gelände, sondern in Wahrheit auch kilometerweit auseinander liegen, in einigen Szenen so kunstgerecht aneinander montiert, dass die räumliche Distanz aufgehoben scheint und sie zu einer einzigen Landschaft verschmelzen.
Dieser neu eröffnete Blick auf das Gesamtwerk legt die Hypothese nahe, dass die Natur selbst für den Regisseur womöglich ein zentraler Baustein des Films war und ihr somit eine wesentlichere Bedeutung beizumessen ist, als ich es für möglich gehalten hätte.
Jean Rollin ist es zweifellos gelungen, die magische Atmosphäre der Cevennen und der Grands Causses in die Handlung einzuweben, wodurch er einen der ungewöhnlichsten Filme seiner Zeit geschaffen hat.

Uns ist es bei diesen Drehortbesuchen weniger darum gegangen, alles detailgetreu wie es im Film zu sehen ist, nachzufotografieren, sondern vor allem darum, die Stimmung zu transportieren und diese besondere Landschaft einzufangen. Es ist wahrhaft mysteriös und faszinierend, wie diese Felsen in der flachen Landschaft aus dem Boden zu ragen scheinen (vgl. Zitat aus dem Film unter den Bildern).
Doch macht euch selbst ein Bild - die Screenshots sind an den seitlichen schwarzen Balken erkennbar.
Viel Spaß!



Der Nebel hält sich im Herbst und Winter oft noch bis Mittags in der Schlucht


Claudine auf dem Weg zur Kirche


Durch einen glücklichen Wink des Zufalls haben wir diesen Ort unweit unserer Unterkunft entdeckt


Die für diese Gegend typischen markanten Kalksteinfelsen


Eine landschaftlich schöne Aussicht auf diese...


...Felsen, dachte sich wohl Jean Rollin


Das selbe dachte ich mir bei dieser Aussicht...


...weshalb es zu den sehr ähnlichen Aufnahmen der exakt gleichen Gesteinsformationen kam


Das Ganze nochmal aus einem anderen Winkel


Hier ein Screenshot von dem Weingut, auf das Claudine flüchtet


Es ist uns gelungen, auch diesen Ort ausfindig zu machen


Es handelt sich tatsächlich um ein verlassenes Weingut


Claudine steht in dieser Szene kurz vor dem ersten Haus


Im Hintergrund sieht man Kalksteinfelsen


Diese stehen in Wahrheit einige Kilometer weit von besagtem Weingut entfernt


Nochmal ein Screenshot mit den mystischen Felsformationen im Hintergrund


Dieses Foto habe ich in Montpellier le vieux aufgenommen, das... 


...einst als verfluchte Stadt galt und Teil des Nationalparks ist


Claudine sucht nach Bewohnern dieser Häuser


Wir ebenfalls


Claudine gelangt über eine Steintreppe zwischen den Gebäuden zu einem Haus


Mein Foto derselben Stelle


"Wo sind denn alle?" fragt sich unsere Heldin


Wir haben uns diese Frage bei diesem Anblick ebenfalls gestellt


Noch ein schöner Vergleich 1977


2021


Claudine hat Ärger mit dem infizierten Bauern


Zum Glück haben wir an dieser Stelle niemanden angetroffen


Als Zugabe noch ein paar Fotos...


...weil wir es dort so schön fanden


Die Gebäude sind einfach ein dankbares Motiv...


... wenn man einen Hang zu Morbidem und Verfall hat






Von Richtung der Häuser auf das Grundstück fotografiert


Spinnweben am Fenster


Diesen Ort, der im Film ebenfalls eine wichtige Rolle spielt...


... konnten wir ausfindig machen und eindeutig identifizieren


Wie euch vermutlich auffällt...


... hat sich hier landschaftlich so Einiges getan


Während Claudine in den Siebzigern noch eine eher karge Natur vorfindet...


...gibt es hier heute viel Grün in Form von Hecken, Sträuchern und Bäumen zu sehen


Claudine sucht nach nicht infizierten Überlebenden


Sie begegnet aber nur einem der gefährlichen Kranken


Wir haben auch hier keine Menschenseele angetroffen


Angeblich sollen hier in den letzten Jahren einige Botaniker Gärten gestaltet...


...und Pflanzen gesät haben


Wie aktuell diese Informationen sind, war nicht eruierbar


Für uns wirkte dieser Ort jedenfalls...


... als ob er auch vor Kurzem wieder verlassen worden wäre










Inmitten dieser Landschaft treffen Claudine...


...und die blinde Lucie aufeinander


Lucie zu Claudine: "What does it look like around us?"


Claudine: "There are big rocks everywhere... 


...They point towards the sky as if they´d been planted there."




Claudines Beschreibung...


...ist nichts hinzuzufügen


Am besten lässt man es einfach auf sich wirken


Hintergrundinformation: wir befinden uns hier gerade in etwa 15 Kilometer von den...


...anderen Drehorten entfernt


Einer der berühmtesten Felsen in dieser Gegend, der sogenannte Riesenfuß








Was für eine Aussicht














Claudine befindet sich hier mit den bewaffneten Bauarbeitern auf dem Weg zu ihrem Verlobten




Eines meiner Fotos des Wegs




Heute ist alles etwas eingesunken, einsturzgefährdet und stark bewachsen




Auch in den Siebzigern waren die Gemäuer in schlechtem Zustand


Heute


































Es handelt sich eindeutig und unverwechselbar um...


...denselben Felsen. Wo das Gebäude ist und wie die das Pferd da raufgebracht haben, ist ein Rätsel


Weinfelder überall. Wir haben ihn auch gekostet. Bisher haben wir noch keine Hautläsionen


Diese Distelart sieht man an vielen Türen - sie sollen Glück bringen


Die getrockneten Disteln in der Vase sind uns erst jetzt aufgefallen