Sonntag, 9. November 2014

SOLAMENTE NERO (1978)














BLUTIGER SCHATTEN
SCHATTEN DES TODES (Alternativtitel)

Italien 1978
Regie: Antonio Bido
DarstellerInnen: Lino Capolicchio, Stefania Casini, Craig Hill, Massimo Serato, Juliette Mayniel, Luigi Casellato u.a.


Inhalt:
Der junge Universitätsprofessor Stefano fährt mit dem Zug nach Venedig, um auf der kleinen Insel Murano seinen Bruder Paolo zu besuchen. Dieser weiht ihn sogleich in die gottlosen Umtriebigkeiten der Inselbewohner ein. Besonders moralisch verwerflich: eine Hebamme, ein Arzt und ein exzentrischer Graf suchen angeblich regelmäßig ein Medium auf, um Séancen abzuhalten.
Kurz nach Stefanos Ankunft wird das Medium in einer regnerischen Nacht erwürgt. Don Paolo wird Zeuge des Mordes, kann aber den Täter nicht erkennen.
Fortan fühlt sich der Priester nicht nur verfolgt, sondern erhält auch immer eindeutigere Droh-Botschaften. Diese sind offensichtlich ernst zu nehmen, denn die Morde auf der kleinen Insel mehren sich täglich...


Verdächtig? Sandra (Casini)


Das Medium sitzt hinter ihm - da schaut Paolo grimmig


Als Vorbereitung auf den alljährlichen November-Urlaub in "meinem" Venedig (Erklärung im Venedig-Special) ist "Blutiger Schatten" eine vorzügliche Filmwahl.
Auch wenn man nicht gerade einen Besuch der spätherbstlichen Lagunenstadt plant, sollte man "Blutiger Schatten" zumindest ein Mal über die heimische Leinwand flimmern lassen.
Dieser klassische Giallo steht nämlich, wie Regisseur Antonio Bido selbst betont, ganz in der Tradition von Dario Argento (im Speziellen "Profondo Rosso" und "Suspiria") und Pupi Avati ("Das Haus der lachenden Fenster").

Angefangen vom auffallend ähnlichen Artwork des Filmplakats




zu dem von "Suspiria"



über die "Profondo Rosso" ähnliche Thematik (der zufällig beobachtete Mord an einem Medium, das Gemälde als Schlüssel zum Rätsel), die Wahl der Filmmusik (Bido engagierte die durch Argento zu Ruhm gelangte italienische Band Goblin für die Vertonung der Komposition Stelvio Ciprianis) bis hin zu den Hauptdarstellern.
Lino Capolicchio, der bereits zwei Jahre vorher die Rolle des namensgleichen Protagonisten Stefano in "Das Haus der lachenden Fenster" spielte, betätigt sich wieder als Amateur-Detektiv. Stefania Casini, die als Tanzschülerin in "Suspiria" ihren großen Moment hatte, mimt die Künstlerin Sandra, mit der Stefano eine Romanze verbindet.

Stefano versucht sich als Zugereister, sprich als Außenseiter in einer kleinen eingeschworenen Gesellschaft, in der jeder jeden kennt, zurechtzufinden. Die Inselbewohner sind ihm gegenüber relativ zugeknöpft und begegnen ihm eher misstrauisch als freundlich. Diese spezielle, feindselige Stimmung weckt neuerlich Erinnerungen an "Das Haus der lachenden Fenster".
Die Aufnahmen der nebelverhangenen leeren Plätze, düsteren, schmalen und zugleich pittoresken Gassen Muranos erzeugen unweigerlich eine geheimnisumwitterte Atmosphäre.




In großzügig bemessenen Rationen werden die roten Heringe nach und nach über die gesamte Handlung ausgestreut und miteinander verknotet.
Jede und jeder erscheint in manchen Situationen verdächtig, alle könnten ein Motiv haben.
Sogar der sympathische Stefano selbst erweckt unser Misstrauen mit seinen wiederkehrenden (noch) nicht erklärbaren Flashbacks, kurzen geistigen Absenzen und dem verträumten Blick, mit dem er ein bestimmtes Gemälde mustert. Oder wie er seiner Neo-Bekanntschaft Sandra nachstellt, sie dabei beinahe zu Tode erschreckt und scheinbar naiv vorgibt, er wollte sie überraschen.

Der permanent etwas überspannt wirkende Priester Paolo (großartig: der aus Italowestern bekannte Amerikaner Craig Hill) weiht seinen Bruder gleich zu Beginn in die heidnischen Verstrickungen der seiner Meinung nach teuflischen Séance-TeilnehmerInnen ein. Diese illustre Runde besteht aus einem zwielichtigen Medium, einer Hebamme, die sich nebenbei als Engelmacherin betätigt, einem Arzt und einem exzentrischen Grafen (Massimo Serato, bekannt aus Wenn die Gondeln Trauer tragen), dem der Ruf eines Pädophilen anhaftet. Die genannten Charaktere sind doch schon mal per se mehr als verdächtig. Oder?

Paolo selbst zählt selbstredend ebenfalls zu den potentiellen Mördern, allein schon wegen seines Berufs (ein Priester in einem Giallo führt in der Regel nichts Gutes im Schilde) und seinem leichten Hang zur Hysterie wirkt er zuweilen etwas kauzig-absonderlich.
Abgesehen davon stolpert der depressive und dem Alkohol verfallene Signor Andreani (Luigi Casselato aus Der Todesengel), dessen Tochter vor vielen Jahren auf ähnliche Weise ermordet wurde wie das Medium, scheinbar ziellos, aber nicht zu verleugnend suspekt von einer Szenerie zur anderen. Auch Gasparre, der Hausmeister des Priesters, wirkt nicht ganz astrein. Und es wäre wohl nicht allzu weit hergeholt, wollte man der Künstlerin Sandra ein Tatmotiv unterstellen...

Sämtliche BewohnerInnen der kleinen Insel-Gemeinde wissen so gut wie alles über den jeweilig anderen und dennoch stehen sie genau so wie die örtliche Polizei den brutalen Verbrechen ohnmächtig gegenüber. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, die Morde aufzuklären. Oder scheuen sie sich etwa vor der Wahrheit? Jedenfalls benötigen sie augenscheinlich Hilfe von Außen in Form des engagierten Stefanos.

Mit einer gewissen Giallo-Erfahrung ausgestattete Menschen erkennen vermutlich, dass sie hier einen Film vor sich haben, bei dem eigenes Mitraten und -rätseln nur bedingt zielführend, aber natürlich ungemein lustig ist. Wer dabei den Faden verliert, kann sich aber getrost von den Bildern und der Stimmung treiben lassen ohne wichtige Hinweise zur Aufklärung der Mordserie zu verpassen.
Letztere erhalten wir zum traditionellen gialloesken Ende in Form eines gefühlt ewig langen und verwirrenden Monologs.
Bei meiner ersten visuellen Begegnung mit "Blutiger Schatten" war ich dezent frustriert, weil ich glaubte, die Auflösung nicht verstanden zu haben.
Mittlerweile habe ich gelernt zu akzeptieren, dass (wie in so manch anderem Film im Giallo-Genre) die ein oder andere Frage einfach unbeantwortet und vereinzelte Szenen unaufgeklärt bleiben.
Legt man seinen Fokus auf Atmosphäre, Spannung und Unterhaltung erscheint eine rationale und bodenständige Erklärung für die Mordserie eher zweitrangig. Zumindest in meinem persönlichen Film-Universum.

Lieblingszitat (Dialog zwischen leicht unmotivierten Polizisten)
"Der Kommissar sagt, wir sollen patrouillieren."
"Der sitzt auf seinem fetten Arsch und wir kurven in der Gegend rum!"

"Blutiger Schatten" kann sich mit den bereits genannten filmischen Vorbildern zwar nicht direkt messen, bietet aber ausreichend denkwürdige Szenen und hinreißende Skurrilitäten (beispielhaft: der versteckte geisteskranke Sohn und das grausame Malträtieren der wehrlosen Miriam, einer Puppe), die auch beim wiederholten Genuss noch für exzellente Unterhaltung sorgen.
Für Venedig-Fans ein Pflicht-Kauf.


Kultig: Das VHS Cover


Foto (von unten nach oben): X-Rated Erstauflage, X-Rated Neuauflage, Anchor Bay Giallo Box




Foto: Mediabook von X-Rated