Freitag, 12. Februar 2016

LE ORME (1975)














SPUREN AUF DEM MOND

Italien 1975
Regie: Luigi Bazzoni
DarstellerInnen: Florinda Bolkan, Nicoletta Elmi, Peter McEnery, Caterina Boratto, John Karlsen, Esmeralda Ruspoli, Luigi Antonio Guerra, Ida Galli, Lila Kedrova, Klaus Kinski u.a.


Inhalt:
Die in Rom lebende Dolmetscherin Alice Cespi ist überarbeitet, nimmt zu viele Psychopharmaka und hat Wach- und Alpträume über den Mond. Darin werden von einem gewissen Professor Blackmann Menschenexperimente durchgeführt. Seit Neuestem leidet Alice an einer rätselhaften Amnesie. Sie kann sich an die letzten drei Tage ihres Lebens partout nicht erinnern. Eine Postkarte, die sie in ihrer Wohnung findet, zeigt das Hotel Garma, das sich  in dem gleichnamigen geheimnisvollen Ort befindet.
Alice bucht den nächsten Flug nach Garma, wo sie in besagtem Hotel eincheckt und feststellt, dass es hier offenbar Menschen gibt, die sich an sie zu erinnern scheinen.
Allerdings behaupten das Mädchen Paula und andere, dass sie eine gewisse Nicole sein soll und vor ein paar Tagen bereits hier war. Alice begibt sich auf Spurensuche, doch die ganze Angelegenheit wird immer verstörender und verwirrender...


Auch diese Frisur mindert nicht die Ausstrahlung einer Bolkan


Nicoletta Elmi zeigt sich wie so oft mysteriös


Luigi Bazzonis fünfter und letzter Spielfilm "Spuren auf dem Mond" erinnert formal und thematisch sehr an sein Erstlingswerk La donna del lago.
In beiden Regiearbeiten Bazzonis geht es um die nur allzu schnell verschwimmenden Grenzen zwischen Realität und wahnhaftem Erleben. In beiden muss sich der Protagonist respektive die Protagonistin der Frage stellen, was objektive Tatsachen und was subjektive Interpretation ist. Was entspringt der eigenen Phantasie, was findet nur im  Kopf statt und was nicht?
Und beide sind einsam und auf sich allein gestellt auf der Suche nach der Wahrheit. Gerade dieses Bestreben nach einer Aufklärung bestimmter Ereignisse scheint sie von ihren Mitmenschen regelrecht zu entfremden. Das Misstrauen in einer als feindlich wahrgenommenen Welt ist allgegenwärtig.
Somit schließt sich der von Bazzoni gezogene Kreis, wenn sich Alice ähnlich wie der Autor Bernard durch eine von Alpträumen verdunkelte Welt kämpft.

Florinda Bolkan, die Alice Cespi spielt und bei Una lucertola con la pelle di donna ebenfalls eine Frau verkörpert, die psychisch instabil und fragil wirkt, kann man einfach nur bewundern.
Nicht nur wegen ihrer Vielseitigkeit als Schauspielerin, sondern auch, weil sie es schafft, in "Spuren auf dem Mond" trotz dieser befremdlich wirkenden Großmutter-Kurzhaarfrisur Respekt einflößend und stolz zu wirken und dabei zunehmend verunsichert und perspektivlos.
Der Ausstrahlung der faszinierenden Florinda Bolkan ist es unter anderem zu verdanken, dass man in "Spuren auf dem Mond" rapide hineingezogen wird in diesen Sog von Paranoia und unwillkürlich vom rationalen Ufer abgetrieben wird von dieser Welle der Verstörung, Verunsicherung und Verwirrung.


Was sagt uns diese Wohnung über ihre Bewohnerin?


Ausgangspunkt für diese dramatische Geschichte ist Alices Wohnung in Rom. Diese erweckt den Eindruck, als wäre ihre Bewohnerin oder ein Teil von ihr niemals dort angekommen. Es gibt keine Farben, keine Bilder an der Wand, die Regale sind nur spärlich belegt.
Es finden sich keine Hinweise auf ihre Interessen oder Einrichtungsgegenstände, die etwas über ihren Charakter aussagen könnten. Das dominierende Weiß und Grau wirkt wie eine Metapher, die Farben wie eine Manifestation der Persönlichkeit dieser einsamen Frau. Eine Frau, die nicht so recht weiß, wer sie ist und wohin sie will.

Neben Florinda Bolkan muss selbstverständlich Nicoletta Elmi ("Profondo Rosso", The Child - Die Stadt wird zum Alptraum, Baron Blood) erwähnt werden.
Sie spielt das geheimnisvoll wirkende Mädchen Paula, Alices erste Begegnung am Strand von Garma. Paula wirkt dubios, als wisse sie um ein Geheimnis, das sie vor Alice verbirgt.
Nicht nur, dass Paula die Dolmetscherin anfangs für eine gewisse Nicole hält. Das rothaarige Mädchen mit dem ernsten Gesicht erweckt den Eindruck als sei sie ständig auf der Hut, vielleicht sogar auf der Flucht. Wovor? Vor wem?

Lila Kedrova, die im selben Jahr für Il medaglione insanguinato gemeinsam mit Elmi vor der Kamera stand, ist als die exzentrische ältere Dame Mrs. Heim sehr passend besetzt. Diese Lady wirkt auf den ersten Blick warm und herzlich. Doch kann Alice ihr wirklich trauen?
Klaus Kinski tritt in einer kleinen Nebenrolle als ominöser Professor Blackmann in Erscheinung, der Alice in ihren bizarren Träumen begegnet. Oder ist es gar eine vage Erinnerung an die Vergangenheit? Eine Zukunftsvision? Manche Neuropsychologen bezeichnen Träume auch schlicht und einfach als "eine Form des Wahnsinns"...


Wunderbarer Schauplatz


Ein weiterer Grund, warum "Spuren auf dem Mond" bannt und fasziniert, sind die Außenaufnahmen: Der Strand im fiktiven Ort Garma (gedreht wurde in der Türkei), der Friedhof, die imposanten grauen Mauern, an denen Alice wiederholt vorbei läuft, die Ruinen dieser antiken römischen Handelsstadt in einem Pinienwald am Meer.
Wunderschöne Aufnahmen und dennoch so von der Kamera eingefangen, dass eine wirkliche Urlaubsstimmung partout nicht aufkommen will. Es gibt keine Strandidylle, kaum Sonnenstrahlen und keinen Ort der Ruhe und Geborgenheit.
Alice wandelt wie eine Getriebene durch die Sets. Rastlos und ruhelos.
Nicht einmal die imposanten Räumlichkeiten, in die Harry sie einlädt, verhelfen Alice zu einem Gefühl der Sicherheit. Die Atmosphäre in den prunkvoll eingerichteten Räumen mit farbenprächtigen Glasmalereien verändert sich sehr schnell und ist abhängig von den gerade vorherrschenden Lichtverhältnissen.
Das Wechselspiel von Licht und Beleuchtung ist von einer besonderen Ästhetik, die neben dem Regisseur wohl auch dem geschulten Auge von Kameramann Vittorio Storaro (sorgte auch für das besondere optische Etwas in Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe) zu verdanken ist.

Der elegische und einprägsame Soundtrack des Oscar prämierten Komponisten Nicola Piovani, der eine für den Film ganz wesentliche Wirkung entfaltet, wurde in der synchronisierten deutschen Fassung (O-Ton: Englisch) durch eine ganz andere Melodie ersetzt.
Die im Vergleich recht seelenlos wirkende Musik der deutschen Fassung weckt bei mir Assoziationen zu TV-Serien der Achtziger Jahre. Unwillkürlich musste ich beim erstmaligen Hören an "MacGyver" denken. Ob es tatsächlich eine Ähnlichkeit gibt oder mir schlicht und einfach mein Fernsehserien-verseuchtes Gehirn einen Streich spielt?
Ich vermag es nicht genau zu sagen. Und schon fühle ich mich wie die Protagonistin in "Spuren auf dem Mond". Was ist schon real, was Einbildung? Wie anfällig unsere Wahrnehmung doch für Täuschungen ist...

Aufgrund der unaufdringlichen, sanften Art der Inszenierung und der Langsamkeit der Erzählung erreicht und berührt "Spuren auf dem Mond" bestimmt nicht jedes Cineastenherz. Dieser Film zählt definitiv zu den Werken, die eine starke Tendenz haben, ihr Publikum zu spalten.

Dezent umformuliert trifft mein Fazit von La donna del lago interessanterweise sogar fast noch besser auf "Spuren auf dem Mond" zu, weshalb ich wieder mit einer Parallele zwischen den beiden Spielfilmen abschließen möchte:
"Spuren auf dem Mond" kommt auf leisen Sohlen, verbreitet Gefühle von Beklemmung und Unbehagen und hinterlässt seine Fußabdrücke auf unserer Seele.
Nicht nur auf dem Mond.




Fotos: Die DVD von Shameless und die wunderbare VÖ von Koch Media