Sonntag, 2. März 2014

ANIMA PERSA (1977)














THE FORBIDDEN ROOM

Italien, Frankreich 1977
Regie: Dino Risi
DarstellerInnen: Vittorio Gassman, Catherine Deneuve, Danilo Mattei, Anicée Alvina u.a.


Inhalt
Der neunzehnjährige Tino reist zu seinem Onkel und seiner Tante nach Venedig, um dort eine Kunstklasse zu besuchen. Der etwas unsichere, aber sympathische junge Mann möchte nämlich Maler werden.
Doch die zwischen dem Hausherrn (dem charismatischen Ingenieur Stolz), und der Dame des Hauses vorherrschende eigenartige Stimmung irritiert Tino zusehends und so macht er sich auf die Spur, ein Familiengeheimnis zu lüften.
Doch dieses entpuppt sich als nicht so offensichtlich wie angenommen, da sich zusehends herauskristallisiert, dass "des Pudels Kern" nicht in der Geschichte um den verrückten Bruder des Onkels, der im Dachgeschoss lebt, steckt...






"Anima Persa" ist eine Filmrarität von ganz besonderer Qualität, Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit.
Regisseur Dino Risi, der (man mag es kaum glauben, wenn man "Anima Persa" kennt) als Altmeister der commedia all'italiana geschätzt und prämiert wurde, schafft eine bedrückende und beklemmende Atmosphäre, die angesichts der Grundthematik der Geschichte (die ich nicht verraten will) wahrlich absolut angemessen ist.

Wir verfolgen die Handlung aus der Perspektive des jungen Tino, den das bisweilen etwas ruppige Verhalten seines Onkels Fabio, das in eklatantem Widerspruch zu dessen Selbstdarstellung steht, sichtlich verstört.
Der gute Onkel legt nämlich Wert auf Etikette und frönt seiner Leidenschaft für die kulturellen Errungenschaften von Literatur und Musik.

Im Vordergrund steht vor allem die Beziehungsdynamik zwischen den Hauptcharakteren.
Allen voran die zwischen Ingenieur Stolz (Vittorio Gassman) und seiner deutlich jüngeren Frau Elisa (Catherine Deneuve).
Während sie ihn mit seinem Titel, also als Ingenieur, anspricht und sich ihm gegenüber bis auf kurze opportunistische Episoden eher devot verhält, hat er es sich offenbar zur Gewohnheit gemacht, seine Frau zu demütigen und zu kontrollieren.
Überhaupt scheint der Mann recht misogyne Züge aufzuweisen. Und dies nicht nur, weil er nur in Männergesellschaften verkehrt, sondern auch weil er der verqueren Theorie anhängt, dass Frauen eine Evolutionsstufe zwischen Tieren und Gemüse (!) darstellen.

Was zu Beginn nur subtil angedeutet wird, verfestigt sich im Laufe der Handlung und die Eigenheiten und Verrücktheiten seiner venezianischen Verwandten werden für Tino immer deutlicher, die Erklärungen von Onkel und Tante für die Geschehnisse im Haus immer widersprüchlicher und abstruser.

Die Geräusche, die Tino vor allem in der Nacht hört, machen den jungen Mann neugierig.
Mehr als einmal wagt er sich die Treppe zum Dachgeschoss-Zimmer hinauf, um durch einen Spion seinen anderen Onkel zu beobachten.
Dieser rennt dort in einer Art Bademantel wie von Sinnen herum, wirft Gegenstände um und scheint sich mit Vorliebe das Gesicht mit bunten Farben anzumalen sowie die Zunge auf obszöne Art und Weise herauszustrecken.
Der offensichtlich von allen guten Geistern verlassene Mann auf dem Dachboden macht Tino Angst.
Wie er von seinem Onkel Fabio erfährt, war sein durchgeknallter Bruder einst Naturwissenschaftler und ein erfolgreicher Mann.
Dann verfiel er immer mehr dem Wahnsinn, bis er schließlich von seiner Familie als gefährlich eingestuft wurde und deswegen sein Dasein in dem abgesperrten Dachzimmer fristet.
Den einzigen Besuch, den er zulässt, ist der seines Bruders - so erzählt man es dem Neffen zumindest.
Aber es gibt so viele Widersprüche und wundersame Verhaltensweisen von Tinos Familie, dass schon bald klar ist, dass die Wahrheit bis zum Ende im Verborgenen bleibt.


Der verrückte Onkel in Action


Vittorio Gassman, in der Rolle des herrischen Onkels, ist eine Klasse für sich.
Er fasziniert nicht nur durch sein äußeres Erscheinungsbild (die strengen Gesichtszüge, die buschigen Augenbrauen, seine Statur), sondern auch durch seine fabelhaft authentische Mimik.
Er scheint jeden einzelnen Gesichtsmuskel kontrollieren zu können und feierte zu Recht große Erfolge, auch als Theaterschauspieler.

Die bildschöne Catherine Deneuve spielt ihre Rolle mit großer Hingabe und Überzeugungskraft.
Es dürfte allgemein bekannt sein, dass sie eine Schauspielerin höchsten Ranges ist und ich will an dieser Stelle mal jemand anderen sprechen lassen, nämlich den französischen Regisseur und Drehbuchautor Benoît Jacquot:
"Von allen Schauspielerinnen, mit denen ich gearbeitet habe, egal ob Anfängerinnen oder Stars, ist sie vermutlich die durchlässigste. Das hat nichts mit Fügsamkeit zu tun, sie ist einfach die Anpassungsfähigste, die Plastischste, die Durchlässigste in Bezug auf das, was im Film gerade gemacht wird."

Einige weitere originelle und exzentrische Charaktere, die in einer Stadt wie Venedig ganz und gar nicht deplatziert wirken, bereichern "Anima Persa" zusätzlich.
Da wäre zum Beispiel das "Hausmädchen": eine magere und zerbrechlich wirkende Greisin, die sich einen Spaß daraus macht, Tino den irren Dachgeschoss-Onkel zu präsentieren und mädchenhaft kichert, als sie dem jungen Mann erzählt, dass sich der Verrückte manchmal vor ihr entblößt, sie aber als Krankenschwester im Weltkrieg noch ganz andere Sachen gesehen hat...
Oder der bärtige Bekannte des Onkels, der sich in einen schwarzen Umhang gehüllt als Graf präsentiert und sich später als Croupier entpuppt.
Nicht zu vergessen die korpulente Dame, die ihre weißen Haare hochgesteckt trägt, und mit ihrem gewagten Make Up (in etwa eine Mischung aus Zombie und Gothic-Girl) den StudentInnen der Kunstklasse Kaffee serviert.

Man würde einem so vielschichtigen und dezent erzählten Film wie "Anima Persa" Unrecht tun, wenn man nur seine verstörende, beklemmende und rätselhafte Seite hervorheben würde.
Es gibt nämlich einige Szenen, die viel Humor beinhalten, der weder platt noch aufgesetzt wirkt, sondern intelligent in das Gesamtgefüge eingearbeitet ist.

"Anima Persa" ist kein klassischer Giallo und weitaus mehr als ein Drama.
Von seiner Atmosphäre her lässt er sich wohl am ehesten mit Werken von Pupi Avati, insbesondere "Das Haus der lachenden Fenster" vergleichen.
Er ist aber auch ein kleines visuelles Juwel.
Nicht nur wegen den Außenaufnahmen von Venedig (die Accademia, die Rialtobrücke, die Bootsfahrt Richtung Cimitero) sondern auch wegen den ästhetisch eingefangenen Innenaufnahmen von Kirchen, Restaurants und vor allem des prunkvollen antiken Hauses der Familie Stolz mit typisch venezianischem Mobiliar.

Der Schauplatz, das geheimnisvolle morbide Venedig, und die Handlung bilden eine interessante Symbiose. Man kann sich das Eine nicht ohne das Andere vorstellen.

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie sich der Film "anfühlt", dem sei empfohlen, beispielsweise auf youtube in den stimmungsvollen Soundtrack reinzuhören.

Einen Bildvergleich der Locations aus dem Jahr 1977 und 2014 gibt es hier.


Foto: italienische DVD