BLACK GLASSES (Alternativtitel)
Frankreich, Italien 2022
Regie: Dario Argento
DarstellerInnen: Ilenia Pastorelli, Xinyu Zhang, Asia Argento, Mario Pirello, Andrea
Gherpelli, Maria Rosaria Russo, Gianluca Giugliarelli u.a.
Inhalt:
Ein sadistischer
Prostituiertenmörder treibt sein Unwesen in Rom. Das Callgirl Diana wird von
dem Täter nach einer Verfolgungsjagd in einen schweren Unfall mit dem Fahrzeug einer chinesisch
stämmigen Familie verwickelt, bei dem sie ihr Augenlicht verliert. Kurz darauf
stellt Diana fest, dass der Irre sie weiterhin verfolgt. Zur Seite steht ihr
fortan der erst zehn Jahre alte Chin, der seine Eltern bei dem Unfall verloren
hat…
Diana (Pastorelli) und Rita (Argento) |
Chin (Xinyu Zhang) |
Nachdem wir vergangenen Samstag in Italien einen wunderschönen sonnigen Tag am
Comer See verbringen konnten, hatten wir auch noch das Glück, dass in der ersten Kinovorstellung des Abends um 18.20
Uhr außer uns nur drei andere Menschen saßen.
Da ich selbst dem Œuvre des Maestros ambivalent gegenüber stehe, also mich weder zu den uneingeschränkten VerehrerInnen noch zum Kreis der Hater zähle, war ich sehr gespannt, welchen Eindruck Dario Argentos aktuellste Regiearbeit bei mir wohl hinterlassen wird.
Die Antwort darauf ist: ich war direkt fasziniert, angetan und inspiriert von "Occhiali neri".
Foto vom Kinosaal |
Argento ist sich selbst, seinen stilistischen Merkmalen und seinen wiederkehrenden Motiven treu
geblieben, hat jedoch gleichzeitig sowohl den filmischen Look als auch die Handlungselemente auf eine innovative Weise modernisiert und an die Sehgewohnheiten des heutigen Publikums angepasst.
Das Drehbuch, das der mittlerweile 81 Jahre alte Regisseur gemeinsam mit dem Autoren Franco Ferrini (u.a. Phenomena und Dämonen 2) verfasst hat, ist im Vergleich zu seinen populären älteren Thrillern beinahe als geradlinig und schnörkellos zu bezeichnen.
Argento stellt unverkennbar Bezüge zu seinen früheren Filmen her, kreiert jedoch für "Occhiali neri" einen neuen Stil, der im zeitgenössischen Thrillerkino zu verorten ist.
Doch nicht nur dieses gewagte Kunststück ist ihm gelungen. Ebenfalls bemerkenswert ist auch die Verlagerung der Konzentration weg von kreativen set pieces in Form von möglichst spektakulären Todesarten näher an die Geschichte der Hauptfiguren. Der Überlebenskampf der blinden (Ex-) Prostituierten Diana und des traumatisierten zehn Jahre alten Chin stellen das Herzstück des Films dar.
Die kunstfertige Inszenierung von fetischisiert dargestellten Morden, was früher durchaus für den Regisseur charakteristisch war, verliert an Bedeutung und rückt zugunsten der Entwicklung der Figuren und ihrer Verbindung in den Hintergrund.
Die nach dem folgenschweren Unfall entstandene Schicksalsgemeinschaft, bestehend aus einer erblindeten Frau und einem Waisenjungen, ist mit einer Zartheit und Einfühlsamkeit dargestellt, die im Argento-Universum durchaus als außergewöhnlich bezeichnet werden kann.
Für das Knüpfen des als Folge der Erlebnisse und des Überlebenskampfes entstehende Band der Zuneigung und gegenseitigen Unterstützung zwischen der Frau und dem Jungen lässt sich "Occhiali neri" viel Zeit.
Womöglich ist es auch die Betonung dieses Aspekts, der manche Bewunderer von Argentos frühen Werken enttäuscht und ratlos zurücklässt.
Diana und Chin sind die letzten Fahrgäste und treten aus dem Bus auf die dunkle Straße. Nach wenigen Schritten erreichen sie auf der anderen Seite zwei Souvenir-Verkaufsstände, die wie aus dem Erdboden gestampft wirken. Als ob sie im Nirgendwo stehen würden. Diana kauft hier mit Unterstützung ihres jungen Freundes eine neue Sonnenbrille.
Diese seltsame Szene wirkt unwirklich und zusammenhangslos, wie Erinnerungsfetzen aus einem bösen Traum.
Der Eindruck eines vorübergehenden Realitätsverlusts und einer Abkopplung von Raum und Zeit wiederholt sich vom Anfang bis zum Ende des Films in diversen Szenen. Dadurch schafft Argento eine Atmosphäre einer sich allmählich auflösenden Wirklichkeit. Durch das Weglassen von Übergängen, das nicht Erklären von Zusammenhängen und phantasievollen Wendungen hebt sich "Occhiali neri" ganz deutlich von gewöhnlichen Slasherfilmen ab.
Ein Beispiel für die kunstvolle Beleuchtung |
Auf die kunstvolle Beleuchtung der Sets wurde augenscheinlich großen Wert
gelegt. Gerade in den vielen lichtarmen Szenen ist die Beleuchtung oft indirekt. Lediglich Umrisse und Schemen werden illuminiert, andere Details bleiben verborgen in der Finsternis.
Als Diana und Chin aus seiner Wohnung vor der Polizei weglaufen und durch den schmalen,
nur aus dem Hintergrund spärlich beleuchteten Gang flüchten, geht plötzlich eine Tür auf
und eine verwirrt wirkende alte Frau beginnt zu schreien. Diana, die nicht
sieht, was gerade um sie passiert, gerät sichtlich in Panik, Chin stützt sie. Sie gelangen
schließlich über eine Treppe in einen wiederum schmalen Gang auf den Weg ins
Freie.
Auch wenn an dieser Stelle nichts weiter Ungewöhnliches geschieht, rechnet man als ZuschauerIn mit zunehmender Laufzeit des Films insgeheim immer damit, dass im nächsten Moment etwas nicht rational Erklärbares passiert.
Diana und Chin befinden sich nicht nur auf der Flucht, sondern auch auf einer Odysee zwischen verschiedenen Orten, auf der sie wiederholt kurze Begegnungen mit anderen Menschen haben, die nicht in der Lage sind, ihnen zu helfen. Dadurch manifestiert sich nicht nur ihre eigene Schutzlosigkeit, sondern sie erleben auch ihre Mitmenschen als ohnmächtig. Es gibt keinen sicheren Raum und niemanden, der in der Lage ist, zu helfen.
Den Orten an sich kommt in "Occhiali neri" eine gewichtige Rolle zu. Sie changieren zwischen allseits bekannten
touristischen Zielen Roms und Plätzen, die überall sein könnten (die Hotelzimmer,
Dianas Wohnung). Vermeintliche Zufluchtsorte (Chins Wohnung, Ritas Haus am Waldrand) entpuppen sich als Falle und auf den ersten Blick feindselige, dunkle Gegenden (der Wald, der Fluss) bieten mehr Sicherheit als es auf den ersten Blick den Anschein machen mag.
Der übermächtige psychopathische Killer, der dem Kind und der Frau dicht auf den Fersen ist, verkörpert das personifizierte Böse. Er kennt keine Skrupel und keine Gnade, kein Zögern. Niemand ist vor ihm
sicher.
Argento verzichtet auf die Frage nach seinen Motiven und
eine (potentiell) rechtfertigende oder ansatzweise entschuldigende Erklärung für seinen
Wahnsinn. Die in den Giallo Filmen der Siebziger Jahre häufig bemühten klischeehaften küchenpsychologischen Deutungen spielen eine untergeordnete Rolle. Der Mörder ergreift selten das Wort und wenn dann gibt er nicht viel Erhellendes von
sich. Er wird reduziert auf seine schrecklichen Taten. Seine Herkunft, Vorgeschichte, Auslöser für die Mordserie und das Motiv sind für die Handlung nahezu bedeutungslos.
Die dunkle Brille ist für Diana vor u. nach dem Unfall wichtig |
Dadurch bleibt mehr Raum für den nicht enden wollenden Horrortrip, auf dem sich
Diana und Chin befinden. Es wird nur wenig gesprochen, auch Chin und Diana
kommunizieren nur über das Nötigste. Oft fragt sie ihn schlicht, was er gerade sieht und er
antwortet darauf. Gegen Ende, als sie die Wahl treffen müssen zwischen der Flucht in die Richtung einer beleuchteten Straße oder in den pechschwarzen Wald entscheiden sie sich für die zweite Option.
Während ihre Reise die beiden in immer dunklere Gefielde führt, wird auch ihre
Situation immer aussichtsloser. Der Wald und der nahe gelegene Fluss halten
unliebsame Überraschungen bereit.
Wie bei Dario Argentos Filmen so oft im übertragenen als auch im ganz direkten Sinn (vgl. Phenomena oder "Opera") darf man auch hier im Moment größter Not auf unerwartete Hilfe aus dem Tierreich zählen.
In "Occhiali neri" geht es um Einsamkeit, Isolation und darum, angesichts aller Gefahren nicht den Mut und die Hoffnung zu verlieren. Diana steht aufgrund ihres Berufs eher am Rand der Gesellschaft und Chin gehört zu einer nicht sonderlich beliebten oder positiv konnotierten Bevölkerungsgruppe in Italien. Er hat aufgrund seines Migrationshintergrunds keine Familie im Land und auch sonst niemanden, an den er sich in seiner Not wenden kann. Chin ist völlig entwurzelt und auch Diana hat keinen (sicheren) Boden mehr unter ihren Füßen.
Die Sonnenfinsternis, die Diana vor ihrem Unfall beobachtet, wird für die Frau zum Sinnbild eines bevorstehenden radikalen Einschnitts in ihrer Biographie. Ihr Leben verdunkelt sich in vielfältiger Weise, nicht nur durch den Verlust ihres Augenlichts. Das bemerkenswerte Naturschauspiel ist für sie im Nachhinein betrachtet ein böses Omen.
CineastInnen, die mit Argentos Arbeit vertraut sind, dürfen sich über zahlreiche
Referenzen und Querverbindungen zu seinen anderen Filmen freuen. Argento selbst zollt seinem Regie-Kollegen Alexandre Aja Tribut, indem er nicht nur eine
Szene aus "Maniac" (2012) in einem TV Gerät zeigt, sondern auch die Kameraperspektive
bzw. Einstellung des Mordes kurz darauf eins zu eins wiederholt.
Der Soundtrack des französischen Musikers Arnaud Ribotini erinnert mit seinen
treibenden, kühlen Synthesizer Klängen sogar ein wenig an den düster-elektronischen
Klangteppich, den Robin Coudert für Ajas Maniac Remake (2012) komponierte.
Auf künstlich aussehende computergenerierte Effekte hat Dario Argento dieses Mal
verzichtet und sich stattdessen einen alten Bekannten aus Cinecittà an Bord
geholt. Nämlich niemand Geringeren als den Special Effekt-Makeup-Designer mit
dem klingenden Namen Sergio Stivaletti (Phenomena, The Sect). Sein Team hat für "Occhiali neri" hervorragende Arbeit geleistet.
Alles in Allem wird sich das düstere, unheilvolle Universum von "Occhiali neri" bei manchen trotz und bei anderen wegen der unverkennbaren Handschrift Dario Argentos
nicht jedem auf den ersten Blick erschließen. Je nach Vorkenntnissen und
Perspektive könnten sowohl Fans als auch ein unbedarftes Publikum ihre liebe
Mühe haben, einen Zugang zu der Atmosphäre und den Figuren zu finden.
Eine gewisse Aufgeschlossenheit in alle Richtungen hilft (hier) allemal.
Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf eine Zweitsichtung im Heimkino.