Samstag, 5. März 2022

OCCHIALI NERI (2022)


DARK GLASSES - BLINDE ANGST
BLACK GLASSES (Alternativtitel)

Frankreich, Italien 2022
Regie: Dario Argento
DarstellerInnen: Ilenia Pastorelli, Xinyu Zhang, Asia Argento, Mario Pirello, Andrea Gherpelli, Maria Rosaria Russo, Gianluca Giugliarelli u.a.

Inhalt:
Ein sadistischer Prostituiertenmörder treibt sein Unwesen in Rom. Das Callgirl Diana wird von dem Täter nach einer Verfolgungsjagd in einen schweren Unfall mit dem Fahrzeug einer chinesisch stämmigen Familie verwickelt, bei dem sie ihr Augenlicht verliert. Kurz darauf stellt Diana fest, dass der Irre sie weiterhin verfolgt. Zur Seite steht ihr fortan der erst zehn Jahre alte Chin, der seine Eltern bei dem Unfall verloren hat…


Diana (Pastorelli) und Rita (Argento)



Chin (Xinyu Zhang)

Nachdem wir vergangenen Samstag in Italien einen wunderschönen sonnigen Tag am Comer See verbringen konnten, hatten wir auch noch das Glück, dass in der ersten Kinovorstellung des Abends um 18.20 Uhr außer uns nur drei andere Menschen saßen.
Da ich selbst dem Œuvre des Maestros ambivalent gegenüber stehe, also mich weder zu den uneingeschränkten VerehrerInnen noch zum Kreis der Hater zähle, war ich sehr gespannt, welchen Eindruck Dario Argentos aktuellste Regiearbeit bei mir wohl hinterlassen wird.
Die Antwort darauf ist: ich war direkt fasziniert, angetan und inspiriert von "Occhiali neri".


Foto vom Kinosaal


Argento ist sich selbst, seinen stilistischen Merkmalen und seinen wiederkehrenden Motiven treu geblieben, hat jedoch gleichzeitig sowohl den filmischen Look als auch die Handlungselemente auf eine innovative Weise modernisiert und an die Sehgewohnheiten des heutigen Publikums angepasst.
Das Drehbuch, das der mittlerweile 81 Jahre alte Regisseur gemeinsam mit dem Autoren Franco Ferrini (u.a. Phenomena und Dämonen 2) verfasst hat, ist im Vergleich zu seinen populären älteren Thrillern beinahe als geradlinig und schnörkellos zu bezeichnen.
Argento stellt unverkennbar Bezüge zu seinen früheren Filmen her, kreiert jedoch für "Occhiali neri" einen neuen Stil, der im zeitgenössischen Thrillerkino zu verorten ist.

Doch nicht nur dieses gewagte Kunststück ist ihm gelungen. Ebenfalls bemerkenswert ist auch die Verlagerung der Konzentration weg von kreativen set pieces in Form von möglichst spektakulären Todesarten näher an die Geschichte der Hauptfiguren. Der Überlebenskampf der blinden (Ex-) Prostituierten Diana und des traumatisierten zehn Jahre alten Chin stellen das Herzstück des Films dar. 
Die kunstfertige Inszenierung von fetischisiert dargestellten Morden, was früher durchaus für den Regisseur charakteristisch war, verliert an Bedeutung und rückt zugunsten der Entwicklung der Figuren und ihrer Verbindung in den Hintergrund.
Die nach dem folgenschweren Unfall entstandene Schicksalsgemeinschaft, bestehend aus einer erblindeten Frau und einem Waisenjungen, ist mit einer Zartheit und Einfühlsamkeit dargestellt, die im Argento-Universum durchaus als außergewöhnlich bezeichnet werden kann.
Für das Knüpfen des als Folge der Erlebnisse und des Überlebenskampfes entstehende Band der Zuneigung und gegenseitigen Unterstützung zwischen der Frau und dem Jungen lässt sich "Occhiali neri" viel Zeit.
Womöglich ist es auch die Betonung dieses Aspekts, der manche Bewunderer von Argentos frühen Werken enttäuscht und ratlos zurücklässt. 

Ilenia Pastorelli in der Rolle des vom Leben geprüften Callgirls und Xinyu Zhang, der Chin mimt, harmonieren auf der Leinwand gut miteinander. Rita, die als Reha-Lehrerin die Aufgabe hat, Diana beim Zurechtfinden in ihrer neuen Welt zu unterstützen und ihr den Alltag zu erleichtern, wird von Asia Argento gespielt. Zugleich fungierte Asia Argento auch als Produzentin für den Film ihres Vaters.

Durch die alptraumhafte Atmosphäre erinnert "Occhiali neri" an ein apokalyptisches Märchen. 
Diana und Chin irren von einem Ort zum Anderen, oft ist es gerade dunkel, denn ein beachtlicher Teil der Laufzeit spielt in der Nacht. Manchmal wissen sie selbst nicht, wo sie gerade sind und auch das Publikum wird im Dunkeln gelassen über ihren genauen Aufenthaltsort. Beispielhaft kommt dies in einer Szene zum Ausdruck, in der Diana und Chin auf der Flucht vor dem wahnsinnigen Frauenmörder und den Behörden irgendwo an einer Straße aus dem Bus aussteigen. Diana, die aufgrund ihrer nicht mehr vorhandenen Sehkraft auf Chins Beschreibung der Umgebung angewiesen ist, wird von dem Jungen darüber in Kenntnis gesetzt, dass er nicht weiß, wo sie sind.
Diana und Chin sind die letzten Fahrgäste und treten aus dem Bus auf die dunkle Straße. Nach wenigen Schritten erreichen sie auf der anderen Seite zwei Souvenir-Verkaufsstände, die wie aus dem Erdboden gestampft wirken. Als ob sie im Nirgendwo stehen würden. Diana kauft hier mit Unterstützung ihres jungen Freundes eine neue Sonnenbrille.
Diese seltsame Szene wirkt unwirklich und zusammenhangslos, wie Erinnerungsfetzen aus einem bösen Traum.
Der Eindruck eines vorübergehenden Realitätsverlusts und einer Abkopplung von Raum und Zeit wiederholt sich vom Anfang bis zum Ende des Films in diversen Szenen. Dadurch schafft Argento eine Atmosphäre einer sich allmählich auflösenden Wirklichkeit. Durch das Weglassen von Übergängen, das nicht Erklären von Zusammenhängen und phantasievollen Wendungen hebt sich "Occhiali neri" ganz deutlich von gewöhnlichen Slasherfilmen ab.


Ein Beispiel für die kunstvolle Beleuchtung

Auf die kunstvolle Beleuchtung der Sets wurde augenscheinlich großen Wert gelegt. Gerade in den vielen lichtarmen Szenen ist die Beleuchtung oft indirekt. Lediglich Umrisse und Schemen werden illuminiert, andere Details bleiben verborgen in der Finsternis.
Als Diana und Chin aus seiner Wohnung vor der Polizei weglaufen und durch den schmalen, nur aus dem Hintergrund spärlich beleuchteten Gang flüchten, geht plötzlich eine Tür auf und eine verwirrt wirkende alte Frau beginnt zu schreien. Diana, die nicht sieht, was gerade um sie passiert, gerät sichtlich in Panik, Chin stützt sie. Sie gelangen schließlich über eine Treppe in einen wiederum schmalen Gang auf den Weg ins Freie. 
Auch wenn an dieser Stelle nichts weiter Ungewöhnliches geschieht, rechnet man als ZuschauerIn mit zunehmender Laufzeit des Films insgeheim immer damit, dass im nächsten Moment etwas nicht rational Erklärbares passiert.

Diana und Chin befinden sich nicht nur auf der Flucht, sondern auch auf einer Odysee zwischen verschiedenen Orten, auf der sie wiederholt kurze Begegnungen mit anderen Menschen haben, die nicht in der Lage sind, ihnen zu helfen. Dadurch manifestiert sich nicht nur ihre eigene Schutzlosigkeit, sondern sie erleben auch ihre Mitmenschen als ohnmächtig. Es gibt keinen sicheren Raum und niemanden, der in der Lage ist, zu helfen.
Den Orten an sich kommt in "Occhiali neri" eine gewichtige Rolle zu. Sie changieren zwischen allseits bekannten touristischen Zielen Roms und Plätzen, die überall sein könnten (die Hotelzimmer, Dianas Wohnung). Vermeintliche Zufluchtsorte (Chins Wohnung, Ritas Haus am Waldrand) entpuppen sich als Falle und auf den ersten Blick feindselige, dunkle Gegenden (der Wald, der Fluss) bieten mehr Sicherheit als es auf den ersten Blick den Anschein machen mag.

Der übermächtige psychopathische Killer, der dem Kind und der Frau dicht auf den Fersen ist, verkörpert das personifizierte Böse. Er kennt keine Skrupel und keine Gnade, kein Zögern. Niemand ist vor ihm sicher.
Argento verzichtet auf die Frage nach seinen Motiven und eine (potentiell) rechtfertigende oder ansatzweise entschuldigende Erklärung für seinen Wahnsinn. Die in den Giallo Filmen der Siebziger Jahre häufig bemühten klischeehaften küchenpsychologischen Deutungen spielen eine untergeordnete Rolle. Der Mörder
 ergreift selten das Wort und wenn dann gibt er nicht viel Erhellendes von sich. Er wird reduziert auf seine schrecklichen Taten. Seine Herkunft, Vorgeschichte, Auslöser für die Mordserie und das Motiv sind für die Handlung nahezu bedeutungslos.



Die dunkle Brille ist für Diana vor u. nach dem Unfall wichtig


Dadurch bleibt mehr Raum für den nicht enden wollenden Horrortrip, auf dem sich Diana und Chin befinden. Es wird nur wenig gesprochen, auch Chin und Diana kommunizieren nur über das Nötigste. Oft fragt sie ihn schlicht, was er gerade sieht und er antwortet darauf. Gegen Ende, als sie die Wahl treffen müssen zwischen der Flucht in die Richtung einer beleuchteten Straße oder in den pechschwarzen Wald entscheiden sie sich für die zweite Option.
Während ihre Reise die beiden in immer dunklere Gefielde führt, wird auch ihre Situation immer aussichtsloser. Der Wald und der nahe gelegene Fluss halten unliebsame Überraschungen bereit.
Wie bei Dario Argentos Filmen so oft im übertragenen als auch im ganz direkten Sinn (vgl. Phenomena oder "Opera") darf man auch hier im Moment größter Not auf unerwartete Hilfe aus dem Tierreich zählen.

In "Occhiali neri" geht es um Einsamkeit, Isolation und darum, angesichts aller Gefahren nicht den Mut und die Hoffnung zu verlieren. Diana steht aufgrund ihres Berufs eher am Rand der Gesellschaft und Chin gehört zu einer nicht sonderlich beliebten oder positiv konnotierten Bevölkerungsgruppe in Italien. Er hat aufgrund seines Migrationshintergrunds keine Familie im Land und auch sonst niemanden, an den er sich in seiner Not wenden kann. Chin ist völlig entwurzelt und auch Diana hat keinen (sicheren) Boden mehr unter ihren Füßen.

Die Sonnenfinsternis, die Diana vor ihrem Unfall beobachtet, wird für die Frau zum Sinnbild eines bevorstehenden radikalen Einschnitts in ihrer Biographie. Ihr Leben verdunkelt sich in vielfältiger Weise, nicht nur durch den Verlust ihres Augenlichts. Das bemerkenswerte Naturschauspiel ist für sie im Nachhinein betrachtet ein böses Omen.

CineastInnen, die mit Argentos Arbeit vertraut sind, dürfen sich über zahlreiche Referenzen und Querverbindungen zu seinen anderen Filmen freuen. Argento selbst zollt seinem Regie-Kollegen Alexandre Aja Tribut, indem er nicht nur eine Szene aus "Maniac" (2012) in einem TV Gerät zeigt, sondern auch die Kameraperspektive bzw. Einstellung des Mordes kurz darauf eins zu eins wiederholt.
Der Soundtrack des französischen Musikers Arnaud Ribotini erinnert mit seinen treibenden, kühlen Synthesizer Klängen sogar ein wenig an den düster-elektronischen Klangteppich, den Robin Coudert für Ajas Maniac Remake (2012) komponierte.
Auf künstlich aussehende computergenerierte Effekte hat Dario Argento dieses Mal verzichtet und sich stattdessen einen alten Bekannten aus Cinecittà an Bord geholt. Nämlich niemand Geringeren als den Special Effekt-Makeup-Designer mit dem klingenden Namen Sergio Stivaletti (PhenomenaThe Sect). Sein Team hat für "Occhiali neri" hervorragende Arbeit geleistet.

Alles in Allem wird sich das düstere, unheilvolle Universum von "Occhiali neri" bei manchen trotz und bei anderen wegen der unverkennbaren Handschrift Dario Argentos nicht jedem auf den ersten Blick erschließen. Je nach Vorkenntnissen und Perspektive könnten sowohl Fans als auch ein unbedarftes Publikum ihre liebe Mühe haben, einen Zugang zu der Atmosphäre und den Figuren zu finden.
Eine gewisse Aufgeschlossenheit in alle Richtungen hilft (hier) allemal.
Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf eine Zweitsichtung im Heimkino.