Sonntag, 28. November 2021

TITANE (2021)


TITANE

Belgien, Frankreich 2021
Regie: Julia Ducournau
DarstellerInnen: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Mara Cisse, Bertrand Bonello, Myriem Akkhediou, Dominique Frot u.a.

Inhalt:
Tänzerin Alexia kann das Morden nicht lassen und muss schließlich für eine Weile untertauchen, da ihr die Polizei dicht auf den Fersen ist. Nach einer radikalen Typveränderung wird sie von Feuerwehrmann Vincent für seinen vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Adrien gehalten. Für Alexia beginnt in Vincents Heim ein neues Leben. Doch auch das Leben, das in ihr wächst, macht sich zunehmend bemerkbar und ihr Schwindel droht aufzufliegen…


Bemitleidenswert - Alexia nach dem Unfall


Alexia sucht als Erwachsene die Nähe zu Autos


Etwas über zwei Wochen habe ich nach der Kinovorstellung von "Titane" hin- und herüberlegt, ob ich etwas zu diesem Film schreiben kann und soll. Einerseits wollte ich ein wenig zeitlichen und auch emotionalen Abstand gewinnen, um dadurch mehr Klarheit über das Gesehene zu erhalten. Andererseits pflege ich meine Texte für gewöhnlich in einer Form zu verfassen, in der ich Spoiler bzw. ein detailliertes Eingehen auf gewisse Inhalte tendenziell vermeide. Jedoch erscheint es mir unmöglich, unter Einhaltung dieser selbst auferlegten Vorgaben auch nur annähernd etwas Sinnvolles über den Film zu schreiben. Seit langer Zeit hat mich kein (neuer) Film im Kino mehr so in seinen Bann gezogen und anhaltend beschäftigt wie "Titane".
Ich schätze mich glücklich, ihn im menschenleeren Kino auf einer riesigen Leinwand gesehen zu haben. Dies hat natürlich ungemein zur Intensität des Seh-Erlebnisses beigetragen.
Der Film ist auf vielen Ebenen inspirierend und ich werde ihn bestimmt noch öfter ansehen.
Allen, die "Titane" noch nicht gesehen haben und die ihn sich möglichst unwissend und unbedarft (so wie ich im Kino) ansehen wollen, sei empfohlen, mit dem Lesen jeglicher Rezensionen noch zu warten.

Doch nun zum Film:

In der Anfangsszene sehen wir die kindliche Alexia kurz vor dem verhängnisvollen schweren Autounfall, in Folge dessen ihr eine Titanplatte in den Kopf implantiert wird.
Doch wir werden nicht nur ZeugInnen des Unfalls, sondern auch direkt eingeweiht in die emotional kalten familiären Strukturen, in denen das Mädchen aufwächst.
Der Vater sitzt am Steuer des Wagens und vermeidet, um genau zu sein verweigert, jegliche Kommunikation mit seiner Tochter. Er ignoriert das Kind sichtlich genervt und schaltet die Musik lauter, um die Stimme seiner Tochter zu übertönen. Alexia gibt sich redlich Mühe, mit ihrem Vater in Kontakt zu kommen und bettelt mit ihrem trotzigen kindlichen Verhalten regelrecht um Aufmerksamkeit. Doch das Herz des Vaters scheint sich nicht erweichen zu lassen. Als er sich endlich wutentbrannt mit dem Körper Richtung Rücksitz dreht, geschieht die Katastrophe. Nach dem Unfall, als das Mädchen mit Schrauben im Kopf im Krankenhaus gezeigt wird und einen herzerweichenden Anblick bietet, zeigen die Eltern wiederum keine adäquate Reaktion. Sie werden von den Ärzten gebeten, auf neurologische Auffälligkeiten zu achten und insgeheim ertappe ich mich bei dem zynischen Gedanken, dass dies wohl das Einzige ist, was man realistischerweise von Alexias Erzeugern fordern kann.
Auch in dieser Sequenz zeigen sich Mutter und Vater eher distanziert und emotionslos. Niemand nimmt das Kind in den Arm. Es gibt keine liebevolle Zuwendung, keinen Trost. Diesen sucht sich das Mädchen selbst, indem es sich an das Familienauto klammert und es liebkost, worauf wiederum keine elterliche Reaktion folgt. In dieser Szene erhält man eine erste Idee der fatalen Verbindung zwischen positiver Emotion und Fahrzeug, die sich in destruktiver Weise auf Alexias Leben als Erwachsene auswirken wird.
Der Eindruck einer gestörten Bindung und Interaktion zwischen Alexia und ihrer Familie, insbesondere dem Vater, wird auch in späteren Szenen durch Bilder, Blicke und nicht gesprochene Dialoge vermittelt und gefestigt.


Alexia auf der Carshow


Das andere große Dilemma ihres jungen Lebens ist, dass Alexia scheinbar eine sexuelle Präferenz für Metall, insbesondere Autos, entwickelt hat. Bei einem orgiastisch-zügellosen Abenteuer mit einem Auto wird sie von diesem schwanger.
Ihre Schwangerschaft bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Alexias Unvermögen, mit Menschen in Beziehung zu treten, gekoppelt mit ihrem Drang, Andere von sich fern zu halten indem sie tötet, wird ihr zunehmend zum Verhängnis. Die Polizei sucht bereits mittels Phantombild nach der Serienmörderin.
Doch durch die Begegnung mit dem Feuerwehrmann Vincent (Vincent Lindon), der aufgrund des Verlusts seines Sohns Adrien selbst ebenfalls emotional verkümmert ist und nicht mehr in besonderem Maß an seinem Leben zu hängen scheint, ändert sich für die junge Frau alles.
Was sich zwischen den beiden Hauptcharakteren im weiteren Verlauf abspielt, lässt sich nur schwer in Worte fassen, da es dem, was gezeigt wird, nur bedingt gerecht wird.
Alexia macht zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, bedingungslos und kompromisslos geliebt zu werden. Auch wenn die jungen Männer, deren Kommandant Vincent ist, den vermeintlichen Sohn Adrien seltsam finden und manche auch misstrauisch werden, bleibt Vincent zu hundert Prozent loyal.
Er verbietet seinen Männern, über Adrien zu reden. Er will nicht hören, was sie ihm zu sagen haben, da es für ihn schon längst keine Rolle mehr spielt.
"Du bist mein Sohn. Egal, wer du bist." sagt er in einem Moment der Erkenntnis und schonungsloser Offenheit irgendwann zu der Person, mit der er sein Leben teilt.

"Titane" kann auf mehreren Ebenen beleuchtet werden und besitzt selbstverständlich enormes Potential, sein Publikum zu spalten, da er sich weder so einfach kategorisieren lässt noch einen erwartbaren Verlauf nimmt.
Sehr markant erscheinen mir die beiden unterschiedlichen Teile des Films. Zu Beginn ist eine Atmosphäre von (emotionaler) Kälte, Einsamkeit, Zerstörung und Feindseligkeit vorherrschend. Das Tempo der Erzählung nimmt rasch Fahrt auf, die Anzahl der Morde schnellt rasant in die Höhe.
Gerade als man denkt, dass bereits jegliches Steigerungspotential ausgeschöpft sein muss, reduziert Ducournau radikal das Tempo und schwenkt um zu einem quälend langsam erzählten Part, in dem es um die Auflösung der emotionalen Verhärtung der Figuren geht. Schicht um Schicht wird das Menschliche und Verletzliche der Hauptfiguren an die Oberfläche befördert.
Parallel dazu geschieht auch die Transformation von Alexias Körper durch die Schwangerschaft. Es macht den Anschein, dass sie ihre physische Veränderung selbst deutlicher erkennt und ablehnt als das, was sich zeitgleich dazu in ihre Psyche abspielt.


Mord und Feuer als Form der Katharsis


Während vor der Begegnung mit Vincent alles eher rastlos, fahrig und beschleunigt wirkt, umrahmen später auch wunderbar leichte, von der Geschwindigkeit der Außenwelt entkoppelt wirkende Tanz- und Zeitlupenszenen die seelische Metamorphose der beiden Hauptfiguren.
In einer besonders bewegenden Szene in der Küche, in der Alexia/Adrien vor Vincent flüchten will, lädt er seinen Sohn unvermittelt zum Tanz ein. Er öffnet sich auch körperlich, indem er die Hände ausbreitet und von seinem Körper weghält und bewegt sich mit einer unwiderstehlichen, ansteckend wirkenden Lebendigkeit und Leichtigkeit zum Song "She’s not there".
Alexia lässt sich schließlich von ihm verführen, mitzumachen. Das Zitat "Musik sagt mehr als tausend Worte" ist eben doch mehr als nur eine hohle Phrase.
Der abwechslungsreiche und wunderbare Soundtrack von "Titane" nimmt eine bedeutende, mitunter beinahe dominante Rolle ein. Manche Szenen scheinen regelrecht eine symbiotische Verschmelzung zwischen Visuellem und Musikalischem einzugehen. Ducournau hat auch hier nichts dem Zufall überlassen.
Ebenso wenig wie beim Casting der HauptdarstellerIn. Was Agathe Rousselle (Alexia) und Vincent Lindon (Vincent) mit einer eindringlichen Präsenz schauspielerisch leisten, kann nicht genug Anerkennung erhalten.

"Titane" ist ein Film, auf den man sich nach Möglichkeit vorbehaltslos einlassen können sollte. Gerade auch was das Thema der ungewollten Schwangerschaft und der körperlich sichtbaren Auswirkungen betrifft, da sich der Film an dieser Stelle in Richtung Bodyhorror bzw. ins Phantastische bewegt.
Es hilft ungemein, wenn man sich schlicht entführen lässt in die abgründige Welt Alexias, in der es am Ende doch um vertraute menschliche Emotionen geht.
Sowohl visuell als auch erzählerisch bewegt sich "Titane" mit spielerischer Mühelosigkeit über alle Genrekonventionen und -grenzen hinweg. Julia Ducournau, die nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch verfasste, bewegt sich leichtfüßig tänzelnd zwischen Body Horror à la David oder Brandon Cronenberg, Schockern und existenziellem Drama.
Wie Gaspar Noe zeigt sie schonungslose Gewaltexzesse, die den Anfang einer radikalen Veränderung markieren und in eine unabwendbare und umkehrbare innerliche Transformation der Charaktere münden.
Diese Wandlung vollziehen Alexia und Vincent gemeinsam, indem sie wie in einem ständig währenden Kampf zwischen Zuwendung und Ablehnung miteinander ringen.
Keinesfalls wird man der Regisseurin mit den Vergleichen zu ihren Berufskollegen gerecht, denn "Titane" ist viel mehr als ein Konglomerat aus Hommage und Zitaten, der Film an sich stellt vielmehr etwas absolut Innovatives dar. 

Im weiteren Sinn beschäftigt sich Julia Ducournau auch mit der Verwischung und Auflösung von Geschlechterkategorien bzw. den damit konnotierten Klischees und Rollenzuschreibungen.
Dies geschieht jedoch nicht, wie es in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise üblich zu sein scheint, elitär, belehrend oder aggressiv-plakativ, sondern auf eine subtile Art, die (nicht nur) bei den Feuerwehrmännern Unbehagen auslöst.




Während die Feuerwehrmänner mit ihren athletischen Muskelpanzern sich unter ihresgleichen wähnen und gemäß den ungeschriebenen Regeln heterosexueller Männerbünde agieren, wird ihr Kreis ohne dass sie es ahnen, von einer Frau infiltriert.
Dies stiftet zumindest bei einem der Männer besondere Verwirrung, denn er registriert eine ihm unerklärliche und gemäß seinen Werten moralisch tabuisierte Anziehung zwischen ihm und "Adrien". Er reagiert darauf, indem er sich dem Sohn seines Kommandanten gegenüber zunehmend feindselig verhält und Adrien, dessen wahre Identität er in Frage stellt, in einem Akt der Verzweiflung sogar auffliegen lassen möchte.
Die sich steigernde Konfusion der Mannschaft gipfelt schließlich in der Szene, in der Adrien/Alexia bei einem Fest unvermittelt einen erotischen Tanz auf dem Feuerwehrauto aufführt.
Sie wenden sich verstört von ihr ab, denn innerhalb ihres Mikrokosmos, ihrem sozialen Gefüge, finden sie keine angemessene Reaktion auf diese verstörende zur Schau gestellte Körperlichkeit.
Alexia hingegen sucht den Trost wie in ihrer Kindheit wieder beim kalten Metall, indem sie sich in das Feuerwehrauto zurückzieht. Doch auch nach diesem Rückschlag darf sie erfahren, dass Vincent sich trotz allem nicht von ihr abwendet, wodurch es für beide gegen Ende sogar möglich wird, über ihre tiefen Gefühle füreinander zu sprechen.

Eine ganz besonders intensive Szene, in der Alexia (bereits in der Rolle des Adrien) mitten in der Nacht im Bus sitzt, versinnbildlicht ihre eigene Unentschiedenheit, was ihre Identität betrifft. Alexia wird unmittelbar Zeugin einer Situation, in der eine attraktive Frau von einer Gruppe junger Männer nicht nur verbal belästigt, sondern offen bedroht wird. Die Gespräche und Kommentare in Richtung dieser fremden Frau werden zunehmend aggressiv und beherrscht von Dominanz und Gewaltphantasien.
Verschüchtert sucht diese immer wieder den Blickkontakt zu der in der Nähe sitzenden Alexia (in Gestalt von Adrien) und man spürt förmlich die Angst und Verzweiflung, die von ihr Besitz ergreift.
Auf dem Höhepunkt der gefühlten Bedrohung sehen wir einen Schnitt und im Bild ist schließlich nur noch Alexia zu sehen, die allein an der spärlich beleuchteten Bushaltestelle steht.
Sie konnte und kann offenbar keine Position beziehen. Sie war und ist selbst Täterin und Opfer, sie vereint in sich weibliche und männliche Anteile. Alexia ist jedenfalls schlichtweg nicht in der Lage, adäquat zu reagieren oder der Frau gar zu helfen.
Diese Kompetenz, nämlich anderen Menschen vorbehaltlos Hilfe zu leisten, muss sie schließlich noch lernen, indem sie einerseits Vincent sowohl vor einer Überdosis Steroide als auch vor emotionaler Verzweiflung und Suizidalität rettet, andererseits die berührende Erfahrung macht, im Vertrauen auf die Unterstützung von Vincent einer älteren Frau bei einem Feuerwehreinsatz das Leben zu retten.

Der Film bietet optisch, gesellschaftlich und emotional diverse Deutungsmöglichkeiten an, die es je nach persönlich favorisiertem Fokus, zu entdecken gilt. Wer bereit ist, nicht auf klar abgegrenzte Genre-Schemata zu beharren, wer gerne Metaphern entschlüsselt oder sich einfach entführen lässt in die Welt von zwei Außenseitern, die tief im inneren verlorene Seelen sind, dem kann "Titane" als Offenbarung erscheinen. Ducournau lotet Grenzen in alle Richtungen aus.
Der Film umreißt bedeutsame Themen wie die Heilung von Traumata, Familie, Halt und die Versöhnung mit der eigenen Verletzlichkeit.
Meine persönliche Prämisse ist, dass es im Kern jedoch um eine tiefe, vorbehaltslose und vollkommen loyale Verbindung zwischen zwei völlig unterschiedlichen Menschen geht – jenseits von gesellschaftlichen Konventionen und Rollenzuschreibungen.




Foto: Steelbook vom Label Koch Media