ABEND OHNE ALIBI
Italien 1971
Regie: Dino Risi
DarstellerInnen: Ugo Tognazzi, Vittorio Gassman, Ely Galleani, Yvonne Furneaux,
Francesco D’Adda, Simonetta Stefanelli u.a.
Inhalt:
Eine junge Frau, die sich ihr Luxusleben mit Prostitution verdingt, wird mit
einer Kopfverletzung tot in ihrem Bett aufgefunden. Der gewissenhafte Richter
Bonifazi geht anhand der Indizien aus der Gerichtsmedizin von einem Mord aus.
Gleich zu Beginn der Untersuchung des Falls stößt er bereits auf seinen
Hauptverdächtigen – den reichen Industriellen Lorenzo Santenocito. Letzterer
möchte einen Skandal vermeiden und tut alles, um sich ein Alibi zu verschaffen.
Kann Bonifazi dem Geschäftsmann den Mord nachweisen?
Richter Bonifazi (Tognazzi) in seinem Element |
Santenocito (Gassman) verärgert einen Anhalter |
Regisseur Dino
Risi, der als einer der wichtigsten Vertreter des Genres "Commedia
all’italiana" gilt, wandte sich erst nach Studium und umfangreicher Ausbildung
dem Filmgeschäft zu.
Risi war promovierter Arzt und ausgebildeter Psychiater und verfasste Kolumnen
für eine Tageszeitung.
Nicht nur aufgrund seiner Biographie, sondern auch wegen seiner absolut
bemerkenswerten Filme zählt er zu einem der wichtigsten Filmschaffenden aus der
Blütezeit von Cinecittà.
Den Bekanntheitsgrad eines Fellini, De Sica, Visconti oder Rossellini, die
außerhalb Italiens gemeinhin mit dem italienischen Kino dieser Zeit verbunden
werden, erlangte er im deutschsprachigen Raum nicht.
Wer in die (Un-)Tiefen der damaligen italienischen Filmindustrie abtaucht und
etwas abseits des Mainstream und klassischen Arthaus Kino schnorchelt, weiß,
dass man auch dort Gold schürfen kann.
Ein wortreiches Psychoduell der Spitzenklasse |
Im Mittelpunkt
der Handlung stehen die Psychospielchen und das Macht-Duell zwischen dem
gewissenhaften Richter Bonifazi (Ugo Tognazzi) und dem neureichen Lebemann
Lorenzo "Renzo" Santenocito (der grandiose Vittorio Gassman, u.a. bekannt aus Anima Persa).
Was die beiden Männer respektive diese hochtalentierten Schauspieler in "Abend
ohne Alibi" an Charme, Exzentrik und Durchtriebenheit aufbringen, lässt jedes
italophile Herz einige Takte höher schlagen.
Bis zum Ende tappt man trotz zahlreicher Indizienbeweise und höchst suspektem
Verhalten von Großkotz Santenocito als ZuschauerIn im Dunkeln, ob der Industrielle
tatsächlich einen Mord begangen hat oder ob er sich aufgrund der
Voreingenommenheit des Richters tatsächlich so kopflos und suspekt verhält,
dass er gar nicht aus dem Focus der Ermittlungen geraten kann.
Fakt ist: er lügt, wenn es ihm vermeintlich nützt und immer wieder werden seine
Ausflüchte und Alibi-Konstrukte vom Richter oder zumindest vom aufmerksamen Publikum
als solche enttarnt.
Komik und Tragik wechseln sich im Verlauf der Erzählung ab oder liegen so nahe
beieinander, dass man Schwierigkeiten hat, die Situationen einzuordnen.
Santenocitos greiser Vater |
Der Übergang ist in der Tat oft fließend wie zum Beispiel in der Szene, in der
Santenocito seinen leicht geistig verwirrten Vater (er hört eben manchmal
Trompetenklänge), der trotz allem für den Geschmack des Sohnemanns zu viel
mitbekommt und sich standhaft weigert, eine Falschaussage zu machen, trotz Protest und wehrhaftem Verhalten des Senioren in eine
Nervenklinik einweisen lässt. Immerhin könnte der Alte sein Alibi zunichte
machen.
Diese Sequenz zeigt die unbarmherzige und eiskalte Seite von Santenocito, der
auch im Umgang mit seiner Ehefrau hauptsächlich herabwürdigende,
chauvinistische und sexistische Sprüche findet.
Dieser Mann hat einen starken Geltungsdrang und zeigt ganz klar narzisstische
Wesensmerkmale.
Santenocito will Überlegenheit demonstrieren |
Sein sinnbildlich
bester Auftritt ist der als er in der Verkleidung im Stil eines römischen
Imperators direkt von seiner Pool-Kostüm-Party von der Polizei abgeholt wird. Er wird als
Verdächtiger vor den Richter zitiert und muss ihm Rede und Antwort stehen.
Trotz seinem an sich lächerlichen Aufzug gebärdet er sich streitlustig,
siegessicher und präsentiert seine (vermeintliche) verbale Überlegenheit
während der Befragung.
"Abend ohne Alibi" ist ein satirisches Zeitdokument über die italienische Bevölkerung in den frühen Siebzigern. Die Charaktere sind pointiert dargestellt, die Dialoge und Wortgefechte steigern sich fast bis zur Polemik. Die überspitzte Darstellung und die Komik mancher Begebenheiten sind durch die äußert kurzweilige Inszenierung bravourös verflochten mit nachdenklich stimmenden Passagen.
Immer wieder wird der Richter sehr nachdenklich |
Ungeschönt und realistisch fotografiert bewegt sich Richter Bonifazi durch den Müll, den die Menschen an Ort und Stelle fallen lassen. Doch nicht nur das Umweltbewusstsein der Italiener ließ damals zu wünschen übrig.
Durch die
Perspektive des Richters Bonifazi bröckelt die marode Fassade der korrupten
Gesellschaft. Bonifazis analytischer Blick seziert nicht nur die psychische
Konstitution seines Hauptverdächtigen, sondern wirft auch einen kritischen
Seitenblick auf die einfache Bevölkerung. Diejenigen nämlich, die er als
Vertreter des Gesetzes schützen soll. Was er dabei immer wieder wahrnimmt,
lässt augenscheinlich Zweifel bei ihm aufkommen, warum und vor allem für wen er
seinen Beruf eigentlich ausübt. Er ist sich bewusst, dass er offiziell, wie der Originaltitel impliziert, im Namen des italienischen Volkes handelt. Doch genau dieses Volk scheint eben auch für sein Dilemma verantwortlich zu sein.
Das Ende ist hinreißend konsequent und ebenso doppelbödig wie die gesamte Geschichte.
Dino Risi zeigt uns mit "Abend ohne Alibi" den Bodensatz der Moral der
Italiener zu dieser Zeit auf eine so bekömmliche und genussvolle Weise, dass
man voller Ehrfurcht den Abspann sieht und das Gefühl hat, diesen Film gleich
noch einmal sehen zu wollen.
Der große Wehrmutstropfen ist wie bei dem von mir hoch verehrten Dino Risi Werk Anima Persa, dass dieser Film bislang seinem potentiell breiteren Publikum
nicht in einer angemessenen Form zugänglich ist.
Che peccato!