Freitag, 8. Mai 2020

CLIMAX (2018)














CLIMAX

Frankreich 2018
Regie: Gaspar Noé
DarstellerInnen: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Sarah Belala, Giselle Palmer, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Claude-Emanuelle Gajan-Maulle, Sharleen Temple, Thea Carla Schott, Lea Vlamos, Kendall Mugler, Lakdhar Dridi u.a.

Inhalt:
Eine von einer berühmten Choreografin neu zusammengestellte Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern probt in einem verlassenen Schulgebäude mitten im Nirgendwo. Bevor sich die jungen Menschen näher kennen lernen können, beginnt die Stimmung jäh zu kippen und nachdem sich das Gerücht verbreitet, dass jemand LSD in die Bowle gegeben hat, eskaliert die Situation völlig...


Lou (Yacoub) und Selva (Boutella) unterhalten sich


Selvas Eskalation


"Climax" ist eine Wucht von Film. Und zwar gleichzeitig auf visueller, akustischer sowie formaler Ebene. Natürlich bringt er auch Einiges an Spaltungspotential mit sich. Vermutlich wäre es für den skandalbewährten Gaspar Noé sogar enttäuschend, wenn sein jüngstes Werk keine extremen Reaktionen nach sich ziehen würde. Mittelmaß und Anpassung an gesellschaftliche Konventionen stellen für das Enfant terrible der Filmszene in Wahrheit vielleicht seinen ganz persönlichen Horror dar. Jedenfalls legt sein Œuvre diese Vermutung nahe.

Einer der Gründe, warum ich seit früher Kindheit vorzugsweise Horrorfilme konsumiere, ist unter anderem die Intensität, mit der man diese Filme wahrnimmt. Sie sind in vielen Fällen ein ganz spezieller Abenteuerausflug und wecken auf irgend eine Art Emotionen. Außerdem faszinieren mich die psychologischen und soziologischen Aspekte, die oft sichtbare und nachvollziehbare Wandlung der Charaktere, die Skizzierung von Menschen, die in Extremsituationen kommen und wie sie sich daraus resultierend gegenüber ihrem Umfeld verhalten.
Ohne den Film auf irgendeine Sparte oder ein Genre festlegen zu wollen oder können, muss ich gestehen: Dieses spezielle cineastische Kick-Erlebnis bescherte mir auch "Climax". Das erste Mal in einem kleinen Kino ohne modernste Technik und nun vor kurzer Zeit im Home Kino mit Dolby Atmos Boxen, deren fetter Sound unsere Sitzmöbel leicht vibrieren ließen.

Das Grundkonzept ist - wie in vielen Genrefilmen - auch in diesem Fall simpel und schnell erklärt: Man bringt eine möglichst inhomogene Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten mit divergenten Neigungen und (politischen) Einstellungen, die zueinander in keinem besonderen Naheverhältnis stehen, auf engem Raum in einer abgeschiedenen Gegend zusammen. Dann sorgt man durch irgendwelche Einflüsse dafür, dass alle durchdrehen.
Die Eskalation fängt man mit der Kamera auf voyeuristische Weise ein.
Den Rest erledigt das Auge des Betrachters oder der Betrachterin, das durch den persönlichen ethisch, moralisch und sozialisationsbedingten Filter hindurch wahrnimmt, interpretiert und vielleicht sogar aus persönlichen Bewertungen eine Konklusion zieht.
Genau dies ist auch der Grund, warum (derartige) Filme Meinungen spalten. Es ist nicht die Kunst an sich, sondern die subjektive Bewertung. Das macht die Filmkritik und auch die Zensur-Diskussionen in meinen Augen zu einem großen Teil aus.
Was als beachtenswert, verurteilenswert oder gar menschenverachtend klassifiziert wird, greift auf ganz individuelle Muster der eigenen Psyche und weitestgehend auch auf den gesellschaftlichen Kontext und vor allem die persönliche Sozialisation, wie der Begriff  in der Psychologie definiert wird, zurück.
Natürlich kann der Film auch überhaupt nicht zu seinem Publikum sprechen. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn er nichts triggert oder die persönlichen Interessen nicht tangiert.


Ein Bild mit Sogwirkung


Ich habe zwar bis ins Teenager Alter Ballett getanzt und genieße es, mich zu düsteren Klängen im Kunstnebel auf Tanzflächen zu bewegen, aber das war es dann auch schon.
Ich habe überhaupt keine Ahnung von (modernem) Tanzstil. Jedoch sehe ich Menschen gerne beim Tanzen zu. Was diese Frauen und Männer in "Climax" im Takt der Beats mit ihren Körpern anstellen und mit welchen Kameraperspektiven ihre Bewegungen eingefangen werden, zieht mich sogartig mitten ins Gewusel menschlicher Extremitäten und lässt die Welt rundherum verblassen und verschwimmen.
Es ist beinahe eine körperliche Erfahrung (die sanften Bass Vibrationen helfen dabei natürlich ungemein).
Dabei ist kaum (er-)fassbar, was diese Frauen und Männer mit ihren Körpern, die alle auf ihre Art schön und ästhetisch in der Bewegung wirken, anstellen. Es wirkt fast, als wären die Muskeln, die Rundungen, jede Faser dieser Körper genau für die Moves, die sie vollführen, geschaffen.
Die Sirene, die die erste Tanzchoreographie im Film einläutet, vermag bereits zu euphorisieren.

"Climax" ist ein farbenprächtig inszenierter Film über einen (Horror-) Trip, der beim Publikum stellenweise ein Flow Erlebnis erzeugen kann. Jedoch kippt die Stimmung unter den Tanzenden bekanntlich ins Negative und mündet in eine Orgie mit Gewaltexzessen und Sex, kombiniert mit diversen Tabubrüchen.
Eros und Thanatos dominieren das Geschehen. Ähnlich wie auch bei anderen Werken Noés (so etwa auch in "Enter the void"). Die titelgebende Steigerung bezieht sich definitiv (auch) auf den sichtbaren Kontrollverlust. Der Weg führt von der absoluten Körperbeherrschung bis zu völlig unkontrollierbaren Zuckungen, Ticks und sogar (epileptischen) Anfällen. Wir sehen dem physischen und psychischen Verfall zu bis zum bitteren Ende.

Beim zweiten Ansehen fällt auf, dass man die Charaktere besser unterscheiden und aus dem allgemeinen Getümmel herausfiltern kann. Die Zusammenhänge zwischen AkteurInnen und ihrem jeweiligen Verhalten werden dadurch nachvollziehbarer und logischer.
Außerdem betrachtet man die Casting Videos, die zu Beginn die ProtagonistInnen vorstellen, mit anderen Augen. Die Frage, wer eigentlich die Drogen in die Bowle gemischt hat und warum, bleibt offen. Es gibt zwar Hinweise und Andeutungen und ich habe auch eine Hypothese dazu. Aber am Ende ist das wer und warum angesichts der sichtbaren Folgen marginal.
Noé selbst geht in einem Interview sogar so weit, das tatsächliche Vorhandensein irgendeiner Substanz in Frage zu stellen. Immerhin könnte es sich auch um eine Massenpsychose bzw. Panik im Alkoholrausch handeln, so der Regisseur.
Vielleicht vergleichbar einem Giallo, bei dem die Auflösung nicht (mehr) von Bedeutung ist, weil es in erster Linie um die Spannung und die Unterhaltung vor den häufig lückenhaften Erklärungen zu TäterIn und Motiv am Ende geht.

Als wir wieder einmal völlig vom Film geflasht den Beamer ausschalten, stellen wir peinlich berührt und leicht betreten fest, dass unser Fenster noch gekippt war und wir die gesamte Nachbarschaft mit in diese (Drogen induzierte) Psychose mitgenommen haben. Will heißen: Laute Musik, verstörende Schreie und hysterisches Gekreische bis kurz vor Mitternacht!
Mit schlechtem Gewissen, aber auch sehr amüsiert über die Vorstellung, was sich Manche wohl so gedacht haben mögen bei dieser Soundkulisse ("Verrückte feiern mit Gästen aus Frankreich eine Corona-Party!?!"), schließen wir das Fenster.
Ob die angesichts des Lärms entstandenen Fantasien mancher Menschen die soeben noch auf der Leinwand betrachteten Bilder übertreffen mögen? Vielleicht sogar eine akustisch induzierte phantasievolle Klimax von "Climax"? Wir trauen uns jedenfalls nicht, jemanden danach zu fragen. Nicht einmal unseren toleranten Lieblingsnachbarn, dessen Schlafzimmer sich direkt unter unserem Filmzimmer befindet...




Foto: BD von Alamode Film