Sonntag, 26. Mai 2019

HEREDITARY (2018)


HEREDITARY – DAS VERMÄCHTNIS


USA 2018
Regie: Ari Aster
DarstellerInnen: Toni Colette, Alex Wolff, Gabriel Byrne, Milly Shapiro, Ann Dowd u.a.

Inhalt:
Annie Graham ringt auf der Trauerfeier ihrer kürzlich dahingeschiedenen Mutter um angemessene Worte, die trotz ihrem Bemühen, die etwas komplexe und schwierige Beziehung zu der Verstorbenen kaum verbergen. Unter den Trauergästen befinden sich außer Annies Gatten Steve, ihrem Teenager-Sohn Peter und der etwas jüngeren Tochter Charlie noch einige Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Doch bevor sie Zeit findet, über dies und manch Anderes im Leben ihrer Mutter und Familie nachzudenken, verwandelt sich die Geschichte der Grahams in eine Tragödie...


Ein merkwürdiges Mädchen - Charlie (Milly Shapiro)


Frust und Verzweiflung bei Annie (Toni Colette)


"Hereditary" habe ich zum ersten Mal im Kino gesehen. Ganz unvorbereitet, ganz unvoreingenommen.
Ich behaupte von mir selbst, leider etwas abgestumpft zu sein, was die Wirkung von Horrorfilmen betrifft und war hoch erfreut und beeindruckt, dass ich bei mehreren Szenen kurz richtiges Gänsehaut-Feeling verspürte.
Nun, bei der zweiten Sichtung zuhause, war das Gefühl nicht mehr ganz so intensiv wie im Kino, aber ich musste mir zwischendurch meine Kuscheldecke holen, weil ich den Eindruck hatte, dass die Raumtemperatur eigenartigerweise rapide gesunken ist.
Wenn man ein ähnlich Horrorfilm-verseuchtes Hirn wie ich hat, fallen einem ja auch noch andere (parapsychologische) Thesen zu diesem Temperatur-Phänomen ein...

Es ist nicht einfach, etwas Zusammenhängendes über "Hereditary" zu schreiben, ohne unnötig zu spoilern (was ja mein selbstauferlegtes Prinzip für die Texte auf "Schattenlichter" ist).
Die allerschönste Erstsichtung ist mit Sicherheit die, bei der man weitestgehend unvoreingenommen und nur rudimentär informiert ist.
Was man garantiert nicht zu sehen bekommt, ist einer dieser modernen Genre-Kinofilme, die mit den üblichen Klischees arbeiten, auf Lautstärke und diese ermüdenden und billigen "BUH!-Jetzt-hab-ich-dich-aber-erschreckt"- Momente setzen.
Es finden sich natürlich auch ein paar wenige einprägsame Szenen, die schockieren und relativ drastisch inszeniert sind.
"Hereditary" lebt jedoch grundsätzlich von seiner Subtilität und ist eine bemerkenswerte Verquickung von Drama und Okkultismus-Grusler. Im Wesentlichen dominiert die Erzählung jener leise, psychologische Horror, der mit Irritation und Verstörung sowie der menschlichen Gefühlswelt und Verhaltensweisen spielt.
Vordergründig wird im ersten Drittel des Films die Dysfunktionalität der familiären Beziehungen zwischen den Grahams stark in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt.
Die Unfähigkeit, zu trauern oder gar über den Verlust der Großmutter zu sprechen, kreiert eine Atmosphäre der Unbehaglichkeit.
Die einzelnen Familienmitglieder leben abgeschottet in ihrem eigenen Universum. Der Versuch, auf der Trauerfeier als heile Familie aufzutreten, will nicht so richtig gelingen und endet darin, dass die Grahams ähnlich (künstlich) arrangiert wie Annies Miniatur-Welten wirken.

Symbole und Symbolik sind, wenn auch nicht immer im Zentrum des Sichtbaren, omnipräsent.
Die zum Teil bewusst schemenhaft gehaltene Darstellung erzeugt das Gefühl von drohendem Unheil ebenso intentional wie die ungewöhnliche, aber eindrucksvolle musikalische Untermalung des Films. Für Letztere zeigt sich der Jazzmusiker Colin Stetson verantwortlich, dessen selbst erklärtes Ziel es war, Töne und Geräusche aus der Umgebung als Grundlage zu nehmen und in eine eigenständige, zum Teil dissonante Komposition einzuarbeiten. Diese außergewöhnliche Soundkulisse drängt sich nicht in den Vordergrund, hat aber dennoch eine unheimlich intensive Wirkung.

Die mehrfach preisgekrönte und für den ebenfalls im Genre-Kino bahnbrechenden "The Sixth Sense" für den Oscar nominierte Toni Colette spielt die vom Schicksal gebeutelte Ehefrau und Mutter Annie mit einer solchen Hingabe, dass die Szenen der tiefgreifenden Erschütterung und kaum ertragbaren Trauer buchstäblich unter die Haut gehen.
Auch Alex Wolff, der den Sohn Peter verkörpert, ist offensichtlich ein schauspielerisches Ausnahmetalent. Doch die faszinierendste Persönlichkeit ist in meinen Augen Milly Shapiro als Tochter Charlie.
Ihre außergewöhnlichen und unverwechselbaren Gesichtszüge, die sie per se wirken lassen, als sei sie nicht von dieser Welt, ergänzen sich mit ihrem bewusst platzierten zurücknehmendem Schauspiel. Shapiro wurde perfekt gecastet für diese Rolle. Hoffentlich macht sie in Zukunft noch öfter Ausflüge in die Welt des Genrekinos.
Gabriel Byrne ("Stigmata") spielt den Ehemann und Familienvater, der mit bisweilen stoischer Mine und unendlich scheinender Geduld bemüht ist, seine zerrüttete Familie zu verstehen und doch nicht imstande ist, über seine Rolle des hilflosen Beobachters hinaus zu wachsen.

Um nochmal den Vergleich zu "The Sixth Sense" zu bemühen – dies war für mich der erste Film, bei dem ich wenige Tage später das Bedürfnis hatte, nochmal ins Kino zu gehen, weil der doch etwas überraschende und damals noch innovative Twist mich neugierig gemacht hat, wie alles wirkt, wenn man das Ende schon kennt.
Bei "Hereditary" machte ich einen ähnlichen Effekt aus, wobei es in dem Sinn nicht die große überraschende Wendung gibt. Doch sämtliche vorangehenden Ereignisse und rätselhaften Vorgänge können mit dem Wissen, das dem Publikum erst mit der Schluss-Sequenz nahe gebracht wird, beim wiederholten Ansehen auf eine andere, wissendere Art gesehen werden. Die Erzählung offenbart ihren vollen Umfang erst mit der Kenntnis der Hintergründe.
Das in manchen Rezensionen stark kritisierte Ende ist in meinen Augen schlichtweg der folgerichtige, radikale Höhepunkt der bedachtsam und wohl überlegt aufgebauten Geschichte.

Für Ari Aster ist "Hereditary" die erste Regiearbeit in Spielfilmlänge. Ob er in der Lage ist, einen weiteren Film auf ähnlich hohem Niveau abzuliefern, wage ich nach Sichtung des dezent peinlich anmutenden Trailers zu "Midsommar" in Frage zu stellen. Aber dass er unmittelbar nach dem erfolgreichen Erstlingswerk nochmal so einen Ausnahmefilm zustande bringt wäre auch mehr als erstaunlich. Außerdem befindet er sich mit dieser Tradition in den Reihen der Genre-Regisseure in bester Gesellschaft. Man denke dabei an M. Night Shyalaman, Tobe Hooper oder William Friedkin,...

"Hereditary" fühlt sich an wie eine unaufhaltsame Fahrt auf einer Rutschbahn in den Schlund der Hölle. Ohne Notbremse findet man sich auf dem  immer steiler werdenden Weg in eine einzige Richtung: runter in den infernalischen Abgrund.
Dieser Film lässt sich an den Maßstäben des modernen Horrorkinos kaum messen. Er ist formal und von seiner Wirkung her absolut außergewöhnlich und dürfte wohl in die Annalen der Genrefilmgeschichte eingehen.




Foto: Steelbook vom Label Splendid