Samstag, 5. Dezember 2015

LA CAMPANA DEL INFIERNO (1973)














EIN TOTER LACHT ALS LETZTER
AB IN DIE HÖLLE
(Alternativtitel)

Frankreich, Spanien 1973
Regie: Claudio Guerin Hill
DarstellerInnen: Renaud Verley, Rebecca Lindfors, Alfredo Mayo, Christine Betzner, Juan Cazalilla, Maribel Martín, Nuria Gimeno u.a.


Inhalt:
Jean wird vorübergehend aus der Psychiatrie entlassen und beabsichtigt klar, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Seine Mutter ist verstorben, er wirkt allein und verloren, heimatlos. Eines Tages besucht er seine Tante Marta, die ihn einst in die geschlossene Anstalt einweisen ließ. Seine dort lebenden drei bildhübschen Cousinen haben es ihm angetan.
Das fürsorgliche Tantchen plant, ihn zu entmündigen und in Folge das Vermögen seiner Mutter zu verwalten. In ein paar Monaten soll der Gerichtsprozess stattfinden. Doch so weit möchte Jean es nicht kommen lassen. Er hat augenscheinlich andere Zukunftspläne...


Tante Marta - selbstlos oder hinterhältig?


Jean umringt von seinen Cousinen


Der etwas eigenartige, doch nicht unpassende deutsche Titel "Ein Toter lacht als Letzter" weckt bei mir Assoziationen zu dreckigen Italowestern.
Doch weit gefehlt! Es handelt sich nämlich in Wahrheit um einen Psychothriller mit einem gialloesken Drehbuch und visuellen Anleihen aus dem gotischen Horrorfilm.
"Ein Toter lacht als Letzter" ist kein leicht zugänglicher Film. Er beginnt storytechnisch beinahe in Zeitlupe und die Frage, was nun real ist, wer verrückt und grausam und wer "normal", wird von der ersten Minute bis zum ganz bitteren Ende genüsslich ausgereizt.

"Du warst fort. Warum bist du zurückgekehrt?"
"Weil ich entlassen wurde."
"Schon als Kind hab ich dir prophezeit, dass du kein Glück haben wirst. Alle besseren Karten sind schon verteilt."

Dialog zwischen dem Hirten und Jean


Jeans Umgebung


Düster und trostlos ist die Welt der geschlossenen Anstalt, der Jean entflieht.
Doch das "Draußen" entpuppt sich als weitaus trostloser und düsterer. Die Landschaft, durch die er mit seinem Motorrad fährt, wirkt kalt, desolat und trostlos. Es ist Herbst. Die Blätter fallen, die Natur stirbt. Die Gebäude sind moosbewachsen und in dichten Nebel gehüllt. Regisseur Claudio Guerin Hill ist es eindeutig gelungen, die für den Tourismus wohl negativsten Landschaftsbilder Galiciens auf Zelluloid zu bannen.
Doch auch die Aufnahmen von Innenräumen vermitteln alles andere als ein Gefühl von Wohlbehagen. Die mangelnde Ausleuchtung der kargen Wohnräume lassen die braunen Tapeten und das dunkle Mobiliar noch trister wirken. Selbst die Tiere, die Jean in seinem Domizil hält, machen sein Haus nicht wohnlicher oder lebendiger. Der Papagei, die Katze, die Schildkröte, die verzweifelt umherflatternden Vögel und die Fische in ihrem kleinen Aquarium wirken auf dem für sie zu knapp bemessenen Raum deplatziert. Wie Gefangene.

Die bigotte Bevölkerung, die die Einweihung der neuen Glocke für den Kirchturm des Dorfes vorbereitet, verhält sich in vermeintlich unbeobachteten Momenten gottlos.
In letzter Minute rettet Jean die Tochter eines Schäfers vor dem sexuellen Missbrauch durch ein paar Fischer.
Seine Tante Marta, die sich als die Retterin ihres Neffen ausgibt (immerhin hat sie für die Einweisung Jeans gesorgt und seine Therapie-Rechnungen bezahlt), wirkt kalt und manipulativ. Jean findet im Haus der Tante Hinweise, dass sie den Arzt, der das Gutachten über ihn erstellt hatte, bestochen hat.
Doch ist Jean wirklich ein ganz normaler auf die schiefe Bahn geratener Junge, dem aus Habgier von der eigenen Familie Unrecht angetan wurde?
Diese in den Köpfen des geneigten Publikums schwelende Unsicherheit wird nie ganz aufgelöst. Es gibt keine klaren Antworten. Und genau das macht den besonderen Reiz des Films aus.
Was war vor dem Aufenthalt in der Psychiatrie? Diesbezüglich hört man von Jean und Marta unterschiedliche Sichtweisen. Und es stellt sich die Frage, inwieweit eine vielleicht latent vorhandene Störung Jeans durch die falsche Behandlung in der Psychiatrie an die Oberfläche des Bewusstseins gebracht und manifestiert wurde.
Oder ob er vielleicht letzten Endes doch ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft ist, gesünder als andere und getrieben von einem unbändigen Freiheitsdrang und Lebenswillen. Einer, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Das soziale Gefüge, in dem Jean sich bewegt, ist das stark pessimistisch gefärbte Abbild einer von Doppelmoral und Gier beherrschten Menschheit. Die subtil nihilistische Sicht auf die menschlichen Abgründe zieht sich wie ein roter Faden durch den Film.
Die inzestuösen Beziehungen zwischen Jean und seinen Cousinen werden nicht nur angedeutet, sondern ganz offen dargestellt. In einer Szene wirkt selbst Jeans Tante, als ob sie nur allzu gerne bereit wäre, dem Charme ihres Neffen zu erliegen. Doppelmoral so weit das Auge reicht.
Man wird das Gefühl nicht los, die Welt durch die misanthrope Brille eines depressiven Menschen zu betrachten.

Während der Zeit des Franco-Regimes herrschten rigide Zensur-Vorschriften, weshalb viele spanische Regisseure ihre Werke im Ausland drehten und mehr oder weniger verschlüsselt Kritik an der Diktatur in ihrem Heimatland übten.
Auch in "Ein Toter lacht als Letzter" findet man ohne geistige Akrobatik betreiben und weit reichende interpretatorische Ansätze bemühen zu müssen klare Hinweise in diese Richtung.
Ein weiterer spannender Aspekt dieses Films.

Die drastischen und grausamen Schlachthaus-Szenen sind nur schwer zu ertragen. Darauf war ich nicht gefasst und ich bin nach wie vor etwas unentschlossen, ob diese für die finale Wirkung und Aussage der Erzählung hilfreich bzw. notwendig waren oder nicht.

Die Hauptfigur der Erzählung ist Jean, der in der deutschen Synchronisation eine Zeit lang John und später Jean, im Spanischen natürlich Juan heißt. Dieser wird verkörpert von Renaud Verley, für dessen schelmisches Antlitz und tiefgründiges Schauspiel ich mich bereits seit der ersten Sichtung von Il caso venere privata begeistere. Auch in "Ein Toter lacht als Letzter" vermag er sich in einer ähnlich angelegten Rolle perfekt in Szene zu setzen. Verley präsentiert uns einen Einblick in die Seele eines zutiefst unglücklichen Menschen im Körper eines sympathischen jungen Mannes mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen. Unter der adretten Oberfläche brodelt eine tragisch gescheiterte Existenz.
Doch auch die anderen DarstellerInnen agieren authentisch und leisten einen wichtigen Beitrag zur unheilvollen morbiden Stimmung des Films.
Ebenso spielt der Soundtrack eine bedeutende Rolle im Gesamtwerk.
"Frère Jacques" (deutsch: "Bruder Jakob") ist ein weit verbreitetes und in viele Sprachen übersetztes Kinderlied, das meist in Form eines Kanons gesungen wird. In "Ein Toter lacht als Letzter" schwebt das immer wiederkehrende von Kindern gesungene Lied wie eine düstere Prophezeiung, ein böses Omen über der Handlung.
Im Text geht es bekanntlich um die Klänge von Glocken...

"Armer Junge. Aufgewachsen ohne Vater, bei einer Mutter, die...
... Es soll vergessen und vergeben sein."
"Sie hat Selbstmord begangen. Das ist eine Sünde. Und Gott vergibt ihr das nicht!"
"Es war ein Unfall. Gehen wir."

Dialog zwischen Tante Marta und Jean

Bedrückend, in welcher Weise dieser Dialog das tragische Lebensende von Regisseur Claudio Guerin Hill vorwegnimmt. Tatsache ist, dass er am Ende der Dreharbeiten vom Turm der Kirche (auf der im Film die neue Glocke aufgehängt wird) stürzte und tödlich verunglückte.
Es ranken sich viele Gerüchte um seinen frühen Tod. Und die Interpretationen dieses Ereignisses pendeln genau wie im oben zitierten Filmdialog zwischen Selbstmord und tragischem Unglück.
War sein eigener Tod etwa die letzte Inszenierung Hills? Sein Ableben ist für ewige Zeit verknüpft mit seiner letzten Regie-Arbeit und die Parallelen (der Glockenturm spielt am Ende nämlich noch eine ganz besondere Rolle) sind nicht von der Hand zu weisen. Es scheint ein Rätsel zu bleiben. Eine weitere unbeantwortbare Frage, wie sie im Film haufenweise aufgeworfen werden.
In diesem Kontext erscheint der deutsche Titel in seiner Zweideutigkeit wie ein Scherz der besonders makaberen Sorte.

"Ein Toter lacht als Letzter" ist die von Fatalismus geprägte, psychologisch und soziologisch vielschichtige finale Hinterlassenschaft eines bemerkenswerten spanischen Regisseurs. Einer jener Filme, in der bei jedem Ansehen ein neues Puzzleteil entdeckt, jedoch nie zu einem vollständigen sinnigen Gesamtbild zusammengefügt werden kann.




Foto: DVD von Pathfinder und Colosseo