Sonntag, 8. August 2021

NICO, 1988 (2017)














NICO, 1988


Belgien, Italien 2017
Regie: Susanna Nicchiarielli
DarstellerInnen: Trine Dyrholm, John Gordon Sinclair, Anamaria Marinca, Sandor Funtek, Thomas Trabacchi, Karina Fernandez, Calvin Demba u.a.


Inhalt:
Christa Päffgen alias "Nico", berühmt als Model und Sängerin, Stilikone und Junkie. Der Film erzählt von ihren letzten Lebensjahren und begleitet sie auf ihrer Tournee durch Europa, zeigt einschneidende Erlebnisse der Künstlerin auf der Bühne und abseits der Kulissen.


Auf der Suche nach den gefallenen Sternen


 
Die Perseiden, auch als Laurentiustränen bezeichnet, sind ein im August auftretender Meteorstrom, bei dem jedes Jahr mit freiem Auge zahlreiche Sternschnuppen am Himmel beobachtet werden können.
Als wir vor ein paar Jahren wieder einmal auf der Flucht vor der Lichtverschmutzung in einer sternenklaren Nacht über kurvenreiche Straßen durch kleine Bergdörfer fuhren, hörten wir im Radio eine Spezialsendung über den britischen Musiker Kevin Ayers. Die Erzählungen über sein Leben und seine Karriere wurden mit Musikstücken des Sängers ergänzt. Während wir uns gerade auf einer stockfinsteren Straße irgendwo im Nirgendwo befanden, ging es in der Sendung schließlich um die Zusammenarbeit von Ayers mit der Sängerin Nico, die mir bis zu diesem Tag nur durch die kurze musikalische Liaison mit der Band The Velvet Underground ein Begriff war.
Als schließlich die Liveaufnahme des Songs "Genghis Khan" in seiner vollen ungeschliffenen Wucht und Intensität aus den Boxen des Autoradios in die dunkle Nacht hinein schepperte, wurde meine Aufmerksamkeit sofort völlig absorbiert von den dumpfen Klängen. Was für eine eindringliche Stimme, was für eine Verzweiflung und welch intensive Melancholie!
Im Nachhinein denke ich mir, dass man sich keine passendere Nacht für diese Radio Reportage hätte aussuchen können als eine, in der man Sterne vom Himmel fallen sieht. Immerhin waren sowohl Kevin Ayers als auch Nico im übertragenen Sinn gefallene Stars.
Spätestens, als ich dann Nicos "Janitor of Lunacy" zum ersten Mal hörte, wurde mir bewusst, dass diese Künstlerin noch viel mehr zu bieten hatte als gemeinhin bekannt und es bestätigte sich wieder einmal, dass es sich meistens lohnt, auch musikalisch abseits der ausgetrampelten Pfande der Popkultur zu schürfen.


Filme über MusikerInnen



Als jemand, für den die Band Joy Division schon seit der Teenagerzeit eine besondere Bedeutung hat und der sich mit Ian Curtis, seinen Texten und der Musik (die eng mit seiner Biographie verknüpft ist) eingehend befasst hat, war ich lange Zeit unsicher, ob ich den kommerziell breit vermarkteten und allgemein eher positiv bewerteten Film "Control" überhaupt sehen möchte.
Nach einigen Jahren der (Ver-) Weigerung kam ich eines Abends doch in Versuchung und war entsetzt – nicht einmal so sehr über die überschwänglich positiven Kritiken des Feuilletons und die Personen aus meinem Umfeld, die mir den Film naiverweise immer wieder einmal ans Herz legen wollten.
Sondern in erster Linie machte es mich betroffen, wie oberflächlich und verkürzt dargestellt Vieles war. Die Chance, den Bezug zu der großartigen, tiefgründigen Musik und deren wahren Zusammenhänge mit Curtis' Biographie darzustellen, wurde zugunsten der überaus kitschig und unnötigerweise völlig pathetisch dargestellten Dreiecksbeziehung des Protagonisten in den Hintergrund gerückt.
Immerhin scheint "Control" aber vielen Menschen zugesagt zu haben und hatte den Effekt, dass zumindest einige Songs der Band jetzt einer breiteren Masse bekannt sind und es wirklich an jeder Ecke und für jeden, der zeigen möchte, dass er/sie auch gerne mal ein bisschen alternativ unterwegs ist, Shirts mit den markanten Linien des "Unknown Pleasures" Albums zu kaufen gibt.

Ähnlich verstört war ich dann, als ich meinte, jetzt vielleicht doch einmal eine weitere (vermeintliche) cineastische Bildungslücke auffüllen zu müssen. Und zwar mit "Walk the line". Der Film über die Country-Legende Johnny Cash, den unvergesslichen "Man in black", bewegt sich für mein Empfinden so sehr im Sumpf von oberflächlichem Hochglanz-Hollywood-Kitsch, dass seine Musik zur Nebensächlichkeit gerät. Johnny Cash wird als durch und durch widerwärtiger und narzisstischer Drecksack charakterisiert. Ich fühlte mich plötzlich von ihm angewidert. Zumindest von der Person, die im Film unter dem Namen "Johnny Cash" auftrat.


Nico, 1988



Die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli stellt mit "Nico, 1988" eindrucksvoll unter Beweis, dass es mittels kinematografischen Motiven möglich ist, die substanzielle Verbindung zwischen der Persönlichkeit der Künstlerin und ihrem musikalischen Opus erleb- und verstehbar zu machen.
Die Annäherung an die Person Christa Päffgen, ihre Rolle als Künstlerin Nico und die Bedeutung ihres musikalischen Schaffens funktioniert auch ohne den vom Hollywoodkino auferlegten Anspruch, möglichst alles in chronologischer Abfolge zeigen zu müssen.
In "Nico, 1988" werden anhand von Auftritten und Begegnungen der Musikerin mit anderen Menschen nur die beiden letzten Lebensjahre von Christa Päffgen gezeigt. Dies geschieht in einer komprimierten Form voller Eindringlichkeit und Schonungslosigkeit, die durch eine Überbetonung vergangener Erfolge und Höhepunkte wahrscheinlich verwässert worden wäre.

Auch einem unbedarften Publikum wird verdeutlicht, welche biographischen Einflüsse für die Songs von Nico relevant waren und wie ihr Erfolg und zuletzt vornehmlich ihr Scheitern auf beruflicher und privater Ebene die Protagonistin geformt und gezeichnet haben. Einen Teil davon lässt die Regisseurin die Künstlerin selbst in Gestalt von prägnanten Dialogen und messerscharf formulierten Aussagen veranschaulichen.
Ihr größter Misserfolg und ihr schlimmstes Unglück war wohl privater Natur und findet Ausdruck in der verkorksten und unbefriedigenden Beziehung zu ihrem Sohn Aaron, genannt Ari.
Christas Sehnsucht nach ihm und einer Familie ist omnipräsent. Doch sie scheint nicht in der Lage zu sein, ihrem Sohn angemessen zu begegnen ohne ihm dabei Schaden zuzufügen. Die Verehrung für ihren Sprössling, die eine inzestuöse Verbindung nicht ausklammert, wird jedoch ebenso wenig in den Focus gerückt oder plakativ dargestellt wie ihre Drogensucht, ihre Beziehungslosigkeit oder sonstige Eskapaden.

Durch bewusste Auslassungen und Zitate erweckt Nicchiarelli die Neugier auf Nico und auf die Frau hinter dem Künstlernamen. Aber vor allem vermittelt sie eine authentische und charakteristische Atmosphäre, in der Musik und Musikerin in beinahe symbiotischer Art und Weise verschmelzen.
Man erhält eine Ahnung davon, warum sie genau diese Art von Sound gemacht hat. Die Bilder und ihr künstlerisches Schaffen sind düster und wirken bisweilen symbolisch aufgeladen.

Die dänische Sängerin, Regisseurin und Schauspielerin Trine Dyrholm (u.a. bekannt aus Thomas Vinterbergs "Das Fest") spielt Nico in englischer Sprache mit deutschem Akzent und sang alle Songs für den Film selbst ein. Ihre volle, tiefe und dennoch leicht brüchig klingende Stimme ist ebenso wie ihr Erscheinungsbild und ihre gesamte Ausstrahlung in höchstem Maße beeindruckend.
Nicos Augen, die nicht nur von Heroin vernebelt, sondern auch zwischen den Giftspritzen wie ein verwundetes Tier und zugleich sehnsüchtig in eine andere Realität zu blicken scheinen, sprechen Bände.
Auch der restliche Cast besteht aus exquisit ausgewählten Charaktergesichtern, die ihre jeweiligen Rollen als in irgendeiner Form im Leben gescheiterte Individuen mit Leidenschaft und Ausdrucksstärke verkörpern.

Das 4:3 Bildformat wurde laut der Regisseurin bewusst gewählt, weil es dem Fernseh- und VHS-Format der Achtzigerjahre entspricht. Ob dies für die Atmosphäre des Werks wirklich eine, wie von ihr angenommen, so bedeutende Rolle spielt, muss jeder für sich selbst entscheiden.
In der Gesamtschau wirkt der Film jedenfalls ähnlich melancholisch, sperrig, ungeschönt und abseits des Mainstreams wie die Musik der portraitierten Künstlerin.
Es gäbe noch viel zu sagen und ausreichend Raum für Interpretationen. Manches fällt vielleicht auch erst bei einer nochmaligen Sichtung stärker ins Gewicht.
"Nico, 1988" ist für mich nach anfänglicher Skepsis und Voreingenommenheit gegenüber dem Genre eine der schönsten Entdeckungen in dieser Filmsparte.