A BEAUTIFUL DAY
Frankreich, USA 2017
Regie: Lynne Ramsay
DarstellerInnen: Joaquin Phoenix,
Ekaterina Samsonov, Alessandra Nivola, Alex Manette, John Doman,
Judith Roberts u.a.
Inhalt:
Ex-Soldat Joe, der mit seiner
demenzkranken Mutter im gemeinsamen Haushalt lebt, erhält den
Auftrag, die Tochter eines Senators aus einem Kinderbordell zu holen.
Der Job entpuppt sich als weitaus gefährlicher als gedacht und
markiert einen Wendepunkt im Leben Joes...
Joe (Phoenix). Sein Blick schweift oft ins Leere. |
Joe mit der orientierungslosen Nina auf dem Weg zurück. |
Das Rundherum
Ein denkwürdiger
Kinobesuch an einem verregneten Feiertag
Wir schreiben den 10. Mai 2018, in Österreich Feiertag. Draußen ist es kühl und ungemütlich. Es regnet in Strömen.
Wir befinden uns an einem Ort, den wir
normalerweise meiden, nämlich in einem Vergnügungstempel, der neben 8 Kino-Sälen und einem IMAX auch noch Bars,
Gastronomiebetriebe und Spielautomaten beherbergt. Die 400 Parkplätze
rund um dieses Event Center sind gut besetzt, das Publikum im Durchschnitt zwischen 18 und 25 Jahre alt. Wir stehen in einer
großen Menschenmenge vor zwei Sälen, die sich in unmittelbarer
Nachbarschaft zu einem Asia Restaurant, einer Pizzeria sowie einer
Shisha Bar und im selben Gang wie die Damentoilette befinden.
Wir hoffen, dass nicht alle Wartenden
zu der Vorstellung von "A beautiful day" wollen. Und siehe da –
beim Einlass sieht es so aus, als ob der Großteil der eben noch
Popcorn schmatzenden und nach billigem Parfum und Schweiß stinkenden Menschen
in das gegenüberliegende Kino trottet. Gut so.
Der große Saal ist dennoch vor allem in der oberen Hälfte dicht besetzt. Wir machen es uns in Reihe 8 so bequem
wie möglich. Irgendwo hinter uns riecht es streng nach diesen
eigenartigen Kino-Nachos, die von uns spöttisch als "Holzchips" bezeichnet werden und deren penetrantes geschmacksverstärktes Aroma
(Knoblauch?) nur mit großen Mengen dieses künstlich schmeckenden
Käse Dips mit der Konsistenz von flüssigem Plastik übertüncht zu
ertragen ist. Ein unverkennbares Bouquet, das auch meist am nächsten Tag noch irgendwo festzusitzen scheint, wo die Zahnbürste nicht hinkommt.
In den nächsten 89 Minuten nehmen wir
abseits des Geschehens auf der Leinwand ein eher verstört wirkendes
Publikum wahr.
Der Mann neben mir bekommt bei manchen
Szenen einen nervösen Reizhusten, die Jungs in der Reihe hinter uns bestätigen sich wiederholt gegenseitig, dass dies ein "Psycho-Film" ist.
Andere fragen ihren Sitznachbarn, ob er weiß, worum es geht. Ein älteres Paar verlässt im ersten Drittel des Films demonstrativ den Saal. Ratlose Blicke werden ausgetauscht, Köpfe zusammengesteckt und auf den Sitzen hin und her gerutscht. Offenbar besteht bei Vielen schon Diskussionsbedarf während des Films.
Andere fragen ihren Sitznachbarn, ob er weiß, worum es geht. Ein älteres Paar verlässt im ersten Drittel des Films demonstrativ den Saal. Ratlose Blicke werden ausgetauscht, Köpfe zusammengesteckt und auf den Sitzen hin und her gerutscht. Offenbar besteht bei Vielen schon Diskussionsbedarf während des Films.
Wäre "A beautiful day" nicht so faszinierend und Aufmerksamkeit fordernd, hätte es mir große Freude bereitet, eine eineinhalbstündige
Verhaltensstudie über die im Raum anwesenden Menschen zu machen.
Just als der Abspann beginnt und
gleichzeitig das Licht angeht, springen fast alle wie von der Tarantel
gestochen auf. Der Großteil scheint es überhaupt ziemlich eilig zu
haben, aus dem Kino raus zu kommen.
Nach erstaunlich kurzer Zeit sitzen wir
bei voller Beleuchtung ganz allein da und fühlen uns wie zwei
Störenfriede während eine Kino Angestellte wie eine fleißige
Hummel vor, neben und hinter uns von Sitz zu Sitz schwirrt, um Popcorn zu entfernen und Müll
einzusammeln.
Der Abspann bietet neben dem treibenden Soundtrack im Stil der 80er noch Einblendungen von Gesprächen. Ein
kleines Puzzleteil der Rahmenhandlung, das in dieser Form im Film
nicht zu sehen bzw. hören war und für das sich das Sitzen bleiben
lohnt. Wie eigentlich für jeden Abspann. Finden wir zumindest.
Der Film
Der Charakter Joe
ist ein vom Leben innerlich und äußerlich deutlich gezeichneter Antiheld und doch wirkt er mit seiner omnipräsenten Aura von persönlicher Tragik wie eine personifizierte Steigerungsstufe von altbekannten Klischees. Ich bin mir nicht einmal
sicher, ob er der Bezeichnung "Antiheld" überhaupt gerecht wird.
Innere Dämonen
verfolgen ihn und treiben ihn gleichzeitig an.
Joe leidet
aller Wahrscheinlichkeit nach an einer komplexen posttraumatischen
Belastungsstörung mit Intrusionen in Form von Flashbacks,
Zwangshandlungen, einer latenten Suizidalität,
Stimmungsschwankungen, Alpträumen, dissoziativen Zuständen,
paranoiden Zügen, mangelnder Regulationsfähigkeit und
unkontrollierten Wutausbrüchen bis hin zu Gewaltexzessen.
Er ist ein innerlich verletztes Kind, das aufgrund des Erleidens von massiver, wiederholter sadistischer
Gewalt durch den eigenen Vater nie ein gesundes Selbstwertgefühl,
geschweige denn so etwas wie ein Urvertrauen aufbauen konnte.
Er ist ein Erwachsener, der im Krieg nicht nur zivile Opfer, sondern auch den Glauben an die Menschheit begraben musste. Zusammen mit einem großen Spektrum seiner Emotionen. Geblieben ist nur eine unbändige Wut, nicht zuletzt auf sich selbst.
Er ist ein Erwachsener, der im Krieg nicht nur zivile Opfer, sondern auch den Glauben an die Menschheit begraben musste. Zusammen mit einem großen Spektrum seiner Emotionen. Geblieben ist nur eine unbändige Wut, nicht zuletzt auf sich selbst.
Joes
Verhaltensweisen sind aufgrund seiner psychischen Störung für seine
Umwelt (und wohl auch einen beachtlichen Teil des Publikums) nicht oder nur schwer nachvollziehbar.
Joaquin Phoenix
gelingt es, all das authentisch zu verkörpern und absolut eindringlich darzustellen. Er dominiert die
Leinwand.
Sein wuchtiger Körper und diese stahlblauen Augen mit dem verlorenen Blick, die aus dem von einem weißgrauen Bart bewucherten Gesicht hervorstechen, erzeugen ambivalente Gefühle.
Sein wuchtiger Körper und diese stahlblauen Augen mit dem verlorenen Blick, die aus dem von einem weißgrauen Bart bewucherten Gesicht hervorstechen, erzeugen ambivalente Gefühle.
Man kann und will
und darf ihn nicht (ganz) bewundern. Aber genauso wenig bemitleiden.
Und trotz alldem geht eine befremdliche Faszination von ihm aus, wenn er mit seinem Hammer mit dem Gütesiegel "Made in America" loszieht und mit roher Gewalt Pädophile, deren Helfershelfer und alle beseitigt, die ihm (vermeintlich) in die Quere kommen.
Und trotz alldem geht eine befremdliche Faszination von ihm aus, wenn er mit seinem Hammer mit dem Gütesiegel "Made in America" loszieht und mit roher Gewalt Pädophile, deren Helfershelfer und alle beseitigt, die ihm (vermeintlich) in die Quere kommen.
Die schicksalhafte
Begegnung mit der minderjährigen Tochter des Senators (gespielt von dem russisch-amerikanischen Model Ekaterina Samsonov), die selbst schwer traumatisiert ist, gibt seinem tristen Dasein eine andere,
neue Richtung. Er übernimmt Verantwortung für das Mädchen.
Zumindest im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten.
Doch die Männer,
die Nina unbedingt als Sexualobjekt behalten wollen, sind mächtig,
skrupellos und voller zerstörerischer Energie. Schnell wird klar, dass es ein harter Kampf werden wird. Für alle Beteiligten.
Joe tut, was er tun muss |
Lynne Ramsay bringt es zustande, die etwas klischeehaft anmutende Geschichte durch
ungewöhnliche Schnitte, geschickt arrangierte Perspektivenwechsel und gezielte
Ausblendungen mancher Gewaltspitzen in einer Form zu präsentieren, die sich oft einer eindeutigen inhaltlichen Interpretation entzieht.
Joes Vergangenheit
wird in kurzen fragmentierten Bildern (Flashbacks) angedeutet, was
Film-KritikerInnen augenscheinlich zu völlig unterschiedlichen
Deutungen mancher Begebenheiten motiviert.
In manche Sequenzen werden für die Handlung potentiell erklärende Teile von der Kamera bewusst abgeschnitten und befinden sich somit außerhalb des Bildrahmens. Dadurch zwingt die Regisseurin das Publikum, unterstützt von einer entsprechenden Soundkulisse,
zum Vervollständigen der Szene vor dem inneren Auge. Ähnlich wie bei
Hitchcocks "Psycho" (von dem es im Film eine schöne Hommage gibt) oder "The Texas Chainsaw Massacre" gibt
es bewusste Auslassungen.
Die Regisseurin spielt mit Erwartungshaltungen und fordert unser Vorstellungsvermögen heraus.
Das, was Joe widerfahren ist und dass er nämlich zu viel gesehen hat, bleibt uns im Kinosessel erspart.
Die Regisseurin spielt mit Erwartungshaltungen und fordert unser Vorstellungsvermögen heraus.
Das, was Joe widerfahren ist und dass er nämlich zu viel gesehen hat, bleibt uns im Kinosessel erspart.
Trostlosigkeit ist ein besonders dominantes Thema in "A beautiful day".
Dies gilt nicht
nur für die Aufnahmen von Innenräumen oder der Stadt sondern auch
für die verletzte Psyche von Joe und Nina.
"A beautiful
day" ist ein fordernder Film. Sowohl was Aufmerksamkeit als auch
Vorstellungskraft betrifft.
Die Soundkulisse, die manchmal mithilfe von Lautstärke oder Penetranz Joes eigene Reizüberflutung andeutet, wirkt ebenso dominant und unangepasst wie der Soundtrack (der zum Teil aus der Feder von Radiohead-Mitglieds Jonny Greenwood stammt).
Die Soundkulisse, die manchmal mithilfe von Lautstärke oder Penetranz Joes eigene Reizüberflutung andeutet, wirkt ebenso dominant und unangepasst wie der Soundtrack (der zum Teil aus der Feder von Radiohead-Mitglieds Jonny Greenwood stammt).
Es ist kein Film,
dem es nur um billige Schocks und blutige Effekte geht.
Dafür hält er gerade dort gnadenlos drauf, wo wir nicht gerne hinsehen – auf die Abgründe der menschlichen Psyche, die Perversionen, die nach wie vor riesigen gesellschaftlichen Tabus. Die Kamera streift quasi die dunkelsten und verborgensten Ecken der menschlichen Zivilisation.
Dafür hält er gerade dort gnadenlos drauf, wo wir nicht gerne hinsehen – auf die Abgründe der menschlichen Psyche, die Perversionen, die nach wie vor riesigen gesellschaftlichen Tabus. Die Kamera streift quasi die dunkelsten und verborgensten Ecken der menschlichen Zivilisation.
Besser als Lynne
Ramsay selbst kann man es nicht auf den Punkt bringen:
"(…) Aber mir ist es auch wichtig,
dass meine Filme weiter im Kino zu sehen sind, ein Computermonitor
würde "A Beautiful Day" einfach nicht gerecht werden.
Er ist ein Trip, auf den man sich
einlassen muss."