Mittwoch, 23. Dezember 2015

BLACK CHRISTMAS (1974)














JESSY – DIE TREPPE IN DEN TOD

Kanada 1974
Regie: Bob Clark
DarstellerInnen: Olivia Hussey, Keir Dullea, Margot Kidder, John Saxon, Marian Waldman, Andrea Martin, Doug McGrath, Art Hindle u.a.


Inhalt:
Junge Frauen in einem Studentinnenwohnheim werden von einem obszönen Anrufer belästigt. Dennoch wollen sie sich vom Feiern nicht abhalten lassen – immerhin ist gerade Weihnachtszeit.
Kurz vor ihrer Abreise in die Heimat verschwindet ausgerechnet die brave Clare spurlos. Gemeinsam mit ihrem Vater, der angereist ist, um das Töchterchen abzuholen, machen sich die Studentinnen auf die Suche nach der Vermissten. Die Polizei ist dabei anfänglich keine große Hilfe, bis Lt. Fuller den Fall übernimmt.
Doch als ZuschauerIn weiß man bereits von Beginn an, welches furchtbare Schicksal das verschwundene Mädchen ereilt hat und in welcher Gefahr die anderen Studentinnen schweben. Der Killer ist nämlich in ihrem Haus...


Jessy am Telefon


Weihnachten hat sich Clare wohl anders vorgestellt


Vier Jahre bevor mit John Carpenters "Halloween" das offizielle Slasher-Zeitalter eingeläutet wurde, schuf der kanadische Regisseur Bob Clark ein Genre-Meisterwerk, das bis heute im Vergleich zu anderen Filmen seiner Art immer noch zu wenig gehuldigt wird.
Während dieses Kleinod von Film im deutschsprachigen Raum unter dem erbärmlich belanglosen Titel "Jessy – Die Treppe in den Tod" in den Videotheken Staub ansetzte, hat dieser frühe Genrefilm jedoch über die folgenden Jahrzehnte aufgrund von Veröffentlichungen (und eines Remakes) den wohlverdienten Popularitätszuwachs erfahren.

"Black Christmas" ist meiner Meinung nach der düsterste aller Slasher. Nicht nur wegen der abartig-unheimlichen Stimme am Telefon oder weil es kaum Tageslicht-Szenen gibt, sondern auch wegen der besonders grausamen Inszenierung der Morde.
Natürlich gibt es Filme, die in der Gewaltdarstellung drastischer sind. Aber warum "Black Christmas" auf psychologischer Ebene so gut funktioniert, hat neben der im Haus lauernden Gefahr auch mit dem Thema Weihnachten zu tun.
Die Morde geschehen zur Zeit des Fests der Liebe in bester Friede-Freude-Eierkuchen-Atmosphäre. Während im unteren Stock eine kleine Bescherung stattfindet und "Frohe Weihnachten" gerufen wird, wird im oberen Stock des Hauses die bemitleidenswerte Clare qualvoll erstickt. In der Sequenz, in der Jessy vor der Tür dem Kinderchor lauscht, wird zur selben Zeit ihre Mitbewohnerin mit einer spitzen Glasfigur malträtiert.
Die Morde sind so inszeniert, dass die unerquickliche Kombination von Weihnachtskitsch und Brutalität durch schnelles Hin- und Herblenden zwischen den parallelen Ereignissen so richtig zur Geltung kommt.
Auf diese Weise werden beim Publikum Koppelungen zwischen physischer Gewalt und weihnachtlicher Stimmung erzeugt. Gruselig.



Trotz festlicher Beleuchtung unheimlich


Das Haus, in dem die jungen Frauen wohnen, ist weihnachtlich beleuchtet. Die Außenaufnahmen wirken dennoch bedrohlich und düster. Meist wird die gesamte Fassade gezeigt, also auch die Tote, die dort auf einem Schaukelstuhl drapiert auf ewige Zeit verdammt ist zum Fenster hinauszusehen...
Die Stimmung im Film ist genau so kalt, trist und grimmig wie der kanadische Winter.

Ein weiterer geschickter Schachzug des Drehbuchautors und Regisseurs ist, neben der permanent vorhandenen Bedrohungssituation im Haus, die Tatsache, dass man den Killer kein einziges Mal zu Gesicht bekommt. Man sieht die Morde und andere Aktivitäten aus der Ego-Perspektive des Wahnsinnigen und abgesehen davon nur seinen Schatten, den Umriss und ein Mal ein Auge.
Dies ist wohl auch der Grund, warum einige Menschen das Ende nicht begreifen. Bob Clark hat einmal in einem Interview gesagt, dass er den Film aus heutiger Sicht bezüglich Auflösung noch eindeutiger machen würde.
Die besonders verstörend wirkende Anruferstimme hat der Film kreativen und sorgfältig arbeitenden Meistern der Tontechnik zu verdanken, die mithilfe von Überlagerung mehrerer Stimmen und anderen Effekten eine besondere Intensität zu erzeugen wussten.
Was in „Black Christmas“ zudem hervorsticht, ist die Wahl der musikalischen Untermalung, genauer gesagt der dissonanten Klänge, die aus einem zerstörten Klavier entstammen.


Die braven Mädchen retten die Welt, die unartigen müssen sterben – ein feministischer Exkurs


Eines der Gebote im Slasher Universum besagt, dass die Mädchen, die sich angemessen verhalten (sprich: nicht saufen, nicht fluchen, auf Drogen und Sex verzichten) diejenigen sind, die (am längsten) überleben werden.
Nicht nur das brave Babysittermädchen Laurie in "Halloween", sondern auch die niedliche Heldin Nancy in "Nightmare on Elm Street" sind tugendhafte keusche Töchter. Ein Vorbild für die verrohte Jugend, quasi der fleischgewordene Traum puritanischer Eltern.
Auf die Spitze getrieben wird dieser Slasher-Verhaltenskodex in Cravens vor Ironie strotzendem "Scream – Schrei!". Die Rolle der weiblichen Genre-Darstellerinnen ist in vielen Filmen vorrangig die des "Kanonenfutters". Schöne Leichen sollen sie abgeben und möglichst laut und dramatisch in die Kamera kreischen.
Während ich auf ein Übermaß an weiblicher Hysterie schnell genervt reagiere, ergötzt sich das männliche Publikum eher an den stimmgewaltigen Schauspielerinnnen. Die sogenannten Scream-Queens gelten als Kult. Es gehört natürlich zum Horrorfilm wie der Topf zum Deckel, dass Klischees bedient werden. Und genau darum funktionieren sie häufig auch besonders gut. Beim Slasher sind es im Speziellen eben auch die Geschlechterrollen-Klischees.
Im Gegensatz zu späteren Filmen dieses Genres wirkt "Black Christmas" noch anarchistisch und weicht tendenziell eher ab von den zukünftig Frauen zugeschriebenen Rollen im Slasher-Film.
Die jungen Damen sind nämlich jede für sich unverwechselbare Charaktere und der Killer erwählt seine Opfer nicht nach einem klaren Beuteschema. Im Gegenteil. Das brave Töchterchen aus gutem Hause, das sich redlich bemüht, nicht wie die anderen über die Stränge zu schlagen, findet als Erste einen schrecklichen Tod.
Jessy (Olivia Hussey), die Hauptprotagonistin und quasi Heldin, ist ungewollt schwanger von ihrem psychisch labilen Musiker-Freund und erklärt ihm selbstbewusst, dass sie eine Abtreibung machen lassen wird. Er fleht sie an, er macht ihr einen Heiratsantrag, er droht ihr. Doch sie lässt sich nicht beeinflussen und möchte über ihre Zukunft selbst entscheiden.
Barbie (hervorragend gespielt von Margot Kidder) raucht, trinkt und kann schimpfen wie ein Kesselflicker. Sie wird auch gerne mal obszön, um bei ihrem Gegenüber Entsetzen hervorzurufen oder auch um den armen nicht gerade mit Intelligenz gesegneten Sergeant Nash auf die Schippe zu nehmen.
Die Studentinnen und auch die unkonventionelle Hausmutter (herrlich: Marian Waldman), die dem Alkohol etwas mehr zuspricht als es gesund oder gesellschaftlich verträglich wäre, sind Persönlichkeiten mit einem hohen Sympathiefaktor und nicht nur blasse zukünftige Opfer.


Die Herren der Schöpfung oder: Warum John Saxon der seriöseste aller Cops ist



John Saxon - Ein Bild von einem Cop


Der charismatische Keir Dullea, dessen Gesichtszüge mich immer sehr an Aragorn-Darsteller Viggo Mortensen erinnern, leistet wirklich Großes in der Rolle als Jessys Freund Peter. Als psychisch labiler Musiker zeigt er uns die volle Bandbreite an Aggressionen. Von der kalten Aggression über ein Stadium der Regression (er verfällt aus Frust in kindliche Muster, in dem er sein Spielzeug, sprich: Klavier, zerstört) bis hin zur offenen Drohung gegenüber seiner Freundin.
Kein Wunder, dass die vernünftige Jessy sich keine Zukunft als seine Ehefrau beziehungsweise Mutter eines gemeinsamen Kindes vorstellen kann.
Es geht von Anfang an eine deutlich spürbare Bedrohung von Peter aus und der gewünschte Effekt, dass man ihn für den irren Mörder halten kann, verfehlt seine Wirkung nicht.
Als Ausgleich dazu wirkt der sympathische Freund Clares, Chris (Art Hindle) wie ein Ruhepol.
Er unterstützt die Mädchen bei ihrer Suche nach seiner verschwundenen Freundin und ist stets gleich zur Stelle, wenn jemand seine Hilfe benötigt.
John Saxon stellt Lt. Fuller dar. Mir fiel dieser Schauspieler in jungen Jahren zum ersten Mal positiv in der Rolle von Nancys Vater ("Nightmare on Elm Street") auf. Dort mimte er ebenfalls einen Vertreter des Gesetzes. Niemand wirkt so seriös, kompetent, überlegt und selbstsicher in der Rolle eines Polizisten wie dieser Mann.
Regisseur Clark wusste um diese Wirkung und verstärkte sie mithilfe von gut positionierter Beleuchtung und günstigen Kameraeinstellungen optimal.
Saxons vertrauenserweckende Ausstrahlung ist enorm. Wenn ich aus einem brennenden Haus springen müsste und John Saxon mit ausgebreiteten Armen unten stehen würde – ich würde nicht zögern.
Gut, der letzte Satz war jetzt vielleicht nicht gaaanz ernst gemeint...

"Black Christmas" geht keine Kompromisse ein. Jeder und jede ist in Gefahr. Zu Recht verdient dieser Film die Bezeichnung "Meilenstein" innerhalb des ganzen Genres und hat dank dem Einsatz innovativer Techniken und einem exquisiten Cast auch nach mehreren Jahrzehnten nichts von seiner intensiven schaurigen Atmosphäre eingebüßt.
Bitte beachten Sie die Verzehr-Empfehlung: Den vollen bitteren und unverwechselbaren Geschmack entfaltet der Film ausschließlich in Kombination mit der Original-Tonspur.

Frohe Weihnachten!




Foto: Blu Ray von Capelight und Capelight Mediabook






Samstag, 12. Dezember 2015

PECCATI DI GIOVENTU` (1975)














SONNE, SAND UND HEISSE SCHENKEL
JUNG, SCHÖN UND LASTERHAFT (Alternativtitel)

Italien 1975
Regie: Silvio Amadio
DarstellerInnen: Gloria Guida, Dagmar Lassander, Silvano Tranquilli, Fred Robsahm (als Fred Robsham), Felicita Ghia, Rita Orlando u.a.


Inhalt:
Angela ist zwar schon ein großes Mädchen, will aber ihrem Vater um jeden Preis gefallen und wünscht sich von diesem wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Da kommt es der jungen Frau mehr als ungelegen, dass der Herr Papa plötzlich mit der schönen Irene auftaucht, die er auch noch beabsichtigt zu ehelichen.
Angela will die Stiefmutter in spe um jeden Preis so schnell wie möglich loswerden und zieht dafür alle Register...


Vater und Tochter (Guida)


Eleganz und Charisma: Lassander


Bereits bei "Avere vent'anni" ärgerte ich mich sehr über den unpassenden Titel Oben ohne, unten Jeans. Bei "Peccati di gioventù" lerne ich nun, dass es eine Steigerungsform von dämlichen, unpassenden Titeln gibt.
"Sonne, Sand und heiße Schenkel" war wohl ein verzweifelter deutscher Vermarktungs-Versuch, der eigentlich nur nach hinten losgehen konnte. Wer sich nämlich einen netten Erotikfilm erwartet, wird durch die Handlung dieses weichgespülten Dramas ziemlich vor den Kopf gestoßen.

Doch für welches Publikum ist dieser Film denn eigentlich geeignet? Mich hat er ausreichend unterhalten und ich würde ihn sogar ein zweites Mal anschauen, weil Gloria Guida eine hinreißend natürliche Schönheit ist (egal ob mit oder ohne Klamotten, zu sehen gibt es beide Varianten).
Weil Dagmar Lassander (Femina Ridens) eine beeindruckende Eleganz und Erotik ausstrahlt und allein durch ihre schauspielerischen Fähigkeiten in der Lage ist, den Schund- und Peinlichkeitsfaktor des Drehbuchs wesentlich zu minimieren.
Weil ausreichend J&B getrunken und die Flaschen schön ins Bild gehalten werden und nicht zuletzt , weil er in Sardinien gedreht wurde und ein herrliches Urlaubsflair verströmt.


Sehe ich aus wie ein Frauenheld?


Fred Robsahm stört ein kleines bisschen in der Rolle des Womanizers, dem die Frauen zu Füßen liegen. Aber vielleicht hat er etwas zu bieten, was auf den ersten und zweiten Blick nicht erkennbar ist??
Regisseur Amadio griff für "Sonne, Sand und heiße Schenkel" gaaanz tief in die Klischee-Kiste und zauberte daraus einen melodramatischen, sehr vorhersehbaren, doch aufgrund der oben genannten Pluspunkte für Fans des italienischen Kinos durchaus sehenswerten Film hervor.


Fotos der Drehorte auf Sardinien und Screenshots findet ihr hier


Das peinliche Plakat passend zum Titel


Foto: VÖ von Raro Video und Donaufilm



Samstag, 5. Dezember 2015

LA CAMPANA DEL INFIERNO (1973)














EIN TOTER LACHT ALS LETZTER
AB IN DIE HÖLLE
(Alternativtitel)

Frankreich, Spanien 1973
Regie: Claudio Guerin Hill
DarstellerInnen: Renaud Verley, Rebecca Lindfors, Alfredo Mayo, Christine Betzner, Juan Cazalilla, Maribel Martín, Nuria Gimeno u.a.


Inhalt:
Jean wird vorübergehend aus der Psychiatrie entlassen und beabsichtigt klar, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Seine Mutter ist verstorben, er wirkt allein und verloren, heimatlos. Eines Tages besucht er seine Tante Marta, die ihn einst in die geschlossene Anstalt einweisen ließ. Seine dort lebenden drei bildhübschen Cousinen haben es ihm angetan.
Das fürsorgliche Tantchen plant, ihn zu entmündigen und in Folge das Vermögen seiner Mutter zu verwalten. In ein paar Monaten soll der Gerichtsprozess stattfinden. Doch so weit möchte Jean es nicht kommen lassen. Er hat augenscheinlich andere Zukunftspläne...


Tante Marta - selbstlos oder hinterhältig?


Jean umringt von seinen Cousinen


Der etwas eigenartige, doch nicht unpassende deutsche Titel "Ein Toter lacht als Letzter" weckt bei mir Assoziationen zu dreckigen Italowestern.
Doch weit gefehlt! Es handelt sich nämlich in Wahrheit um einen Psychothriller mit einem gialloesken Drehbuch und visuellen Anleihen aus dem gotischen Horrorfilm.
"Ein Toter lacht als Letzter" ist kein leicht zugänglicher Film. Er beginnt storytechnisch beinahe in Zeitlupe und die Frage, was nun real ist, wer verrückt und grausam und wer "normal", wird von der ersten Minute bis zum ganz bitteren Ende genüsslich ausgereizt.

"Du warst fort. Warum bist du zurückgekehrt?"
"Weil ich entlassen wurde."
"Schon als Kind hab ich dir prophezeit, dass du kein Glück haben wirst. Alle besseren Karten sind schon verteilt."

Dialog zwischen dem Hirten und Jean


Jeans Umgebung


Düster und trostlos ist die Welt der geschlossenen Anstalt, der Jean entflieht.
Doch das "Draußen" entpuppt sich als weitaus trostloser und düsterer. Die Landschaft, durch die er mit seinem Motorrad fährt, wirkt kalt, desolat und trostlos. Es ist Herbst. Die Blätter fallen, die Natur stirbt. Die Gebäude sind moosbewachsen und in dichten Nebel gehüllt. Regisseur Claudio Guerin Hill ist es eindeutig gelungen, die für den Tourismus wohl negativsten Landschaftsbilder Galiciens auf Zelluloid zu bannen.
Doch auch die Aufnahmen von Innenräumen vermitteln alles andere als ein Gefühl von Wohlbehagen. Die mangelnde Ausleuchtung der kargen Wohnräume lassen die braunen Tapeten und das dunkle Mobiliar noch trister wirken. Selbst die Tiere, die Jean in seinem Domizil hält, machen sein Haus nicht wohnlicher oder lebendiger. Der Papagei, die Katze, die Schildkröte, die verzweifelt umherflatternden Vögel und die Fische in ihrem kleinen Aquarium wirken auf dem für sie zu knapp bemessenen Raum deplatziert. Wie Gefangene.

Die bigotte Bevölkerung, die die Einweihung der neuen Glocke für den Kirchturm des Dorfes vorbereitet, verhält sich in vermeintlich unbeobachteten Momenten gottlos.
In letzter Minute rettet Jean die Tochter eines Schäfers vor dem sexuellen Missbrauch durch ein paar Fischer.
Seine Tante Marta, die sich als die Retterin ihres Neffen ausgibt (immerhin hat sie für die Einweisung Jeans gesorgt und seine Therapie-Rechnungen bezahlt), wirkt kalt und manipulativ. Jean findet im Haus der Tante Hinweise, dass sie den Arzt, der das Gutachten über ihn erstellt hatte, bestochen hat.
Doch ist Jean wirklich ein ganz normaler auf die schiefe Bahn geratener Junge, dem aus Habgier von der eigenen Familie Unrecht angetan wurde?
Diese in den Köpfen des geneigten Publikums schwelende Unsicherheit wird nie ganz aufgelöst. Es gibt keine klaren Antworten. Und genau das macht den besonderen Reiz des Films aus.
Was war vor dem Aufenthalt in der Psychiatrie? Diesbezüglich hört man von Jean und Marta unterschiedliche Sichtweisen. Und es stellt sich die Frage, inwieweit eine vielleicht latent vorhandene Störung Jeans durch die falsche Behandlung in der Psychiatrie an die Oberfläche des Bewusstseins gebracht und manifestiert wurde.
Oder ob er vielleicht letzten Endes doch ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft ist, gesünder als andere und getrieben von einem unbändigen Freiheitsdrang und Lebenswillen. Einer, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Das soziale Gefüge, in dem Jean sich bewegt, ist das stark pessimistisch gefärbte Abbild einer von Doppelmoral und Gier beherrschten Menschheit. Die subtil nihilistische Sicht auf die menschlichen Abgründe zieht sich wie ein roter Faden durch den Film.
Die inzestuösen Beziehungen zwischen Jean und seinen Cousinen werden nicht nur angedeutet, sondern ganz offen dargestellt. In einer Szene wirkt selbst Jeans Tante, als ob sie nur allzu gerne bereit wäre, dem Charme ihres Neffen zu erliegen. Doppelmoral so weit das Auge reicht.
Man wird das Gefühl nicht los, die Welt durch die misanthrope Brille eines depressiven Menschen zu betrachten.

Während der Zeit des Franco-Regimes herrschten rigide Zensur-Vorschriften, weshalb viele spanische Regisseure ihre Werke im Ausland drehten und mehr oder weniger verschlüsselt Kritik an der Diktatur in ihrem Heimatland übten.
Auch in "Ein Toter lacht als Letzter" findet man ohne geistige Akrobatik betreiben und weit reichende interpretatorische Ansätze bemühen zu müssen klare Hinweise in diese Richtung.
Ein weiterer spannender Aspekt dieses Films.

Die drastischen und grausamen Schlachthaus-Szenen sind nur schwer zu ertragen. Darauf war ich nicht gefasst und ich bin nach wie vor etwas unentschlossen, ob diese für die finale Wirkung und Aussage der Erzählung hilfreich bzw. notwendig waren oder nicht.

Die Hauptfigur der Erzählung ist Jean, der in der deutschen Synchronisation eine Zeit lang John und später Jean, im Spanischen natürlich Juan heißt. Dieser wird verkörpert von Renaud Verley, für dessen schelmisches Antlitz und tiefgründiges Schauspiel ich mich bereits seit der ersten Sichtung von Il caso venere privata begeistere. Auch in "Ein Toter lacht als Letzter" vermag er sich in einer ähnlich angelegten Rolle perfekt in Szene zu setzen. Verley präsentiert uns einen Einblick in die Seele eines zutiefst unglücklichen Menschen im Körper eines sympathischen jungen Mannes mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen. Unter der adretten Oberfläche brodelt eine tragisch gescheiterte Existenz.
Doch auch die anderen DarstellerInnen agieren authentisch und leisten einen wichtigen Beitrag zur unheilvollen morbiden Stimmung des Films.
Ebenso spielt der Soundtrack eine bedeutende Rolle im Gesamtwerk.
"Frère Jacques" (deutsch: "Bruder Jakob") ist ein weit verbreitetes und in viele Sprachen übersetztes Kinderlied, das meist in Form eines Kanons gesungen wird. In "Ein Toter lacht als Letzter" schwebt das immer wiederkehrende von Kindern gesungene Lied wie eine düstere Prophezeiung, ein böses Omen über der Handlung.
Im Text geht es bekanntlich um die Klänge von Glocken...

"Armer Junge. Aufgewachsen ohne Vater, bei einer Mutter, die...
... Es soll vergessen und vergeben sein."
"Sie hat Selbstmord begangen. Das ist eine Sünde. Und Gott vergibt ihr das nicht!"
"Es war ein Unfall. Gehen wir."

Dialog zwischen Tante Marta und Jean

Bedrückend, in welcher Weise dieser Dialog das tragische Lebensende von Regisseur Claudio Guerin Hill vorwegnimmt. Tatsache ist, dass er am Ende der Dreharbeiten vom Turm der Kirche (auf der im Film die neue Glocke aufgehängt wird) stürzte und tödlich verunglückte.
Es ranken sich viele Gerüchte um seinen frühen Tod. Und die Interpretationen dieses Ereignisses pendeln genau wie im oben zitierten Filmdialog zwischen Selbstmord und tragischem Unglück.
War sein eigener Tod etwa die letzte Inszenierung Hills? Sein Ableben ist für ewige Zeit verknüpft mit seiner letzten Regie-Arbeit und die Parallelen (der Glockenturm spielt am Ende nämlich noch eine ganz besondere Rolle) sind nicht von der Hand zu weisen. Es scheint ein Rätsel zu bleiben. Eine weitere unbeantwortbare Frage, wie sie im Film haufenweise aufgeworfen werden.
In diesem Kontext erscheint der deutsche Titel in seiner Zweideutigkeit wie ein Scherz der besonders makaberen Sorte.

"Ein Toter lacht als Letzter" ist die von Fatalismus geprägte, psychologisch und soziologisch vielschichtige finale Hinterlassenschaft eines bemerkenswerten spanischen Regisseurs. Einer jener Filme, in der bei jedem Ansehen ein neues Puzzleteil entdeckt, jedoch nie zu einem vollständigen sinnigen Gesamtbild zusammengefügt werden kann.




Foto: DVD von Pathfinder und Colosseo